Weiblichkeit? Eine wütende Liebeserklärung

Seit einigen Jahren ist mir klar, dass ich von Menschen um mich herum eher als Frau als als Mann wahrgenommen werden möchte. Wobei ‘möchte’ häufig eine Untertreibung ist: Ich erlebe Gender-Dysphorie – das unangenehme bis schmerzvolle Empfinden, dass mein Körper, meine Präsentation oder meine sozialen Rollen, nicht zu meinem eigenen Empfinden passen, dazu wer ich ‘bin’.
Die Frage, was Weiblichkeit überhaupt ist, begleitet mich dadurch schon seit einiger Zeit auf sehr persönliche Weise. Sie begegnet mir als trans feminine Person ununterbrochen. Sie steht vor mir, wenn ich in den Spiegel schaue und stellt sich, wenn ich zufällig meine Bartstoppeln berühre, die auch nach 12 Sitzungen Laser-Therapie nicht ganz verschwinden wollen. Sie erklingt, wenn ich meine eigene Stimme auf einer Sprachnachricht höre. Immer dann, wenn ich mit meinen eigenen, absurden Vorstellungen von Weiblichkeit konfrontiert werde: Frauen haben keine Körperbehaarung, besonders keine Gesichtsbehaarung, Frauen haben hohe, leise Stimmen, Frauen sind klein und zierlich und Frauen haben Vulvinen¹, deren Form ich an meinem Körper nicht wiederfinde.
Ich will so unbedingt ‘beautiful’ und ‘cute’ – ein gutes Mädchen sein, und ich will ‘sexy’ und ‘hot’ und eine verdammte Schlampe sein. Ich will eine Bad Bitch sein, und eine verfluchte Hexe, die mit Dämonen fickt. Ich will nachtragend und rachsüchtig sein und zickig as fuck. Ich will verträumt und unschuldig sein und ich will all die Fähigkeiten beherrschen, die angeblich im Wesen von Weiblichkeit liegen: Das sich kümmern, das Lieben, die Selbstaufopferung, das Körper-Sein, die Weichheit, die Empathie, das Muttersein, das Verbundensein, das Sanftsein, das In-Community-Sein. Ich bin fest überzeugt, dass genau diese ‘weiblichen’ Fähigkeiten meine Rolle in meinen Communities darstellen und Grundlage für jeden politischen Kampf sind. Gleichzeitig möchte ich mit meiner Wut schlechtes Wetter heraufbeschwören können, mit dem bösen Blick diejenigen belegen, die mich misgendern und mit meiner Unwiderstehlichkeit just for fun Männer auf die Knie zwingen.
Ich will diese Weiblichkeit besitzen. So sehr, dass ich mir manchmal selbst gierig vorkomme: Ich will all das haben und können. Dieses ganze, absurd zusammengewürfelte Cluster Weiblichkeit.

Als ich angefangen habe, in der Öffentlichkeit weiblich(er) zu performen, hatte ich auf einmal Situationen, in denen ich mich nicht sicher gefühlt habe, in denen ich spüren konnte, wie männliche Blicke versucht haben, mich auszuziehen. Es gab Momente, in denen ich übersehen oder übergangen wurde oder in denen ich meine Meinung nicht als wichtig empfunden und nicht geäußert habe und ich liebe- und verständnisvoll reagiert habe, obwohl ich wütend war, weil meine Grenzen überschritten wurden.
Ich hatte zu dieser Zeit schon ein bisschen feministische Bildung intus und auch wenn mir diese Strukturen aufgefallen sind und mich geärgert haben, habe ich eine ganze Weile gebraucht, um mich dazu zu überwinden, auch nur zu probieren, sie zu verändern. Denn diese Erlebnisse zeigten mir, dass ich als Frau gesehen und behandelt wurde, von mir selbst und von anderen. Und das war zunächst eine überwältigend positive und tiefgreifend bestätigende Erfahrung.

Bin ich eine Frau? Je häufiger ich mir diese Frage stelle, desto weniger Sinn ergibt sie für mich. Ich bin eine überdurchschnittlich Sorgearbeit leistende und Beauty-Industrie-Produkte nutzende Person. Ich habe heißen, sehr lesbischen Sex. Ich bin eine feministisch organisierte FLINTA*, die in aller Regel keinen Bock auf cis-Dudes hat. Bin ich auch ein schwaches, habgieriges Wesen, das sich nicht anders zu helfen weiß, als die eigene Seele an den Teufel zu verkaufen – im Gegenzug für magische Kräfte? Bin ich eine passive, fügsame Gestalt, deren einzige zwei Lebensfragen sind: “Was soll ich kochen und was soll ich anziehen?”, wie es eine Doktor Oetker Werbung von 1954 behauptet?

Es gibt so viele Bilder und Eigenschaften, die angeblich weiblich sind. Suche ich mir daraus einfach die zusammen, die mir in den Kram passen? Dann könnte wohl so ziemlich alles Weiblichkeit sein. Und doch: Performe ich zum Beispiel mehr Butch², fühle ich mich oft genug an Männlichkeiten erinnert, die ich als Kind gelernt habe: Coolness, Breitbeinigkeit und Muscle-Shirts. Trotzdem möchte ich von den Menschen um mich herum bloß nicht männlich gegendert werden. Das einzufordern kommt mir manchmal wie ein Arschloch-Move vor. Bis ich mich daran erinnere, dass der eigentliche Arschloch-Move ist, davon auszugehen, dass Weiblichkeit Schüchternheit, geschlossene Beine und Kleidchen bedeutet. Überhaupt ist es ein ziemlich uncooler Move, davon auszugehen, dass Weiblichkeit irgendetwas bestimmtes bedeutet, oder zumindest, dass sie nur manche Dinge bedeuten kann.
Und das ist dann gleichzeitig auch mein Verhältnis zu Weiblichkeit: Ich will die Vorstellung zerbrechen, dass irgendwas davon natürlich ist, oder nur einem Teil der Menschen zur Verfügung steht. Ich will die Idee vernichten, dass irgendwelche dieser Eigenschaften miteinander einhergehen und sexuelle Unterordnung mit einer hohen Stimme, bestimmten Vornamen und Pronomen, mit Körperformen oder Kleidungsstilen verbunden sind. Ich will Weiblichkeit zerstören, denn ich will Geschlecht zerstören.

Was ist für mich also Weiblichkeit? Einerseits lechze ich nach Weiblichkeit und will sie verkörpern und besitzen, andererseits bin ich pissed und will sie zusammen mit dem ganzen Patriarchat zerschlagen. Es ist eine immens gewaltvolle Interpretation von meinem Verhältnis zu Weiblichkeit, zu schreiben, dass ich Weiblichkeit entweder gierig besitzen oder wütend zerstören will. Und inzwischen habe ich verstanden, dass diese Gewalt nicht von mir ausgeht. Es ist die Gewalt, die Geschlecht immer innewohnt: Als eine Fantasie und Vision, die auf uns projiziert wird, noch bevor wir geboren werden. Als eine moralische, staatliche und medizinische Maßregelung, die uns in bestimmte Körperlichkeiten und Persönlichkeiten zwingt und als wirtschaftliche Kategorie von Ausbeutung, die das Fundament unserer globalen Ökonomie darstellt. Dies ist die Gewalt, die ich in meinem Verhältnis zu Geschlecht spüre.
Und doch empfinde ich auch liebevolle und zärtliche Zuneigung und Zugehörigkeit zu bestimmten Formen von Geschlecht. Und wenn diese auch nicht losgelöst werden können von Geschlecht als binäre und biologistisch konstruierte Kategorie von Machtverhältnissen, so sind sie doch ein großer Teil davon, wer ich bin und wer ich sein will.

ℹ️ Begriffserklärungen

¹Vulvina ist eine Zusammenführung der Worte Vulva und Vagina, die auf Souzan AlSabah zurückgeht. Fälschlicherweise wird häufig von der Vagina gesprochen, die anatomisch nur ein inneres Organ ist, wenn eigentlich das ganze Genital gemeint ist. Die Vulva umfasst wiederum Venushügel, Vulva-Lippen, Klitoris und Vagina-Eingang. Der zusammengeführte Begriff soll ein positives und selbstbestimmtes Sprechen über einen häufig als zusammengehörig wahrgenommenen Bereich ermöglichen, besonders in Bezug auf Sexualität. An dieser Stelle der Hinweis, dass nicht alle Frauen eine Vulvina haben und nicht nur Frauen Vulvinen haben. Die Entscheidung, wie über einen Genitalbereich gesprochen wird, sollte unabhängig von anatomischen und äußerlichen Eigenschaften immer denjenigen zufallen, an denen er dranhängt.

²Butch, englisch für “Kerl”, ist eine Selbstbezeichnung von meist lesbischen Personen, die maskulin performen oder sich männlich identifizieren. Das ‘Gegenstück’ ist ‘Femme’, französisch für “Frau” und wird, ebenfalls vorwiegend in lesbischen Kontexten, von weiblich präsentierenden Personen und Personen, die für sich weibliche Geschlechterrollen als zutreffend empfinden, genutzt.