Inhaltswarnung: Sexismus, Rassismus, Depression, Gewalt, Fatphobia¹, Suizidalität²
Für mich ist dieses Konzept extrem wichtig. Es ist mir wichtig, weil ich es nutzen kann, um anderen Menschen meine Situation zu erklären. Es ist wichtig, weil es Aktivist*innen beibringt, dass die Welt nicht so eindimensional ist, wie viele denken.
Der Begriff kommt von dem englischen Wort „intersection“, was Kreuzung bedeutet. Wie Wege oder Straßen sich kreuzen, so können sich auch Diskriminierungsformen kreuzen. Dort, wo sie sich kreuzen, verstärken sie sich oft gegenseitig. Ein Beispiel: eine cis Frau ist von der Diskriminierungsform Sexismus betroffen. Ist sie auch noch Schwarz und chronisch krank, so ist sie auch von Rassismus und Ableismus betroffen.
Je nachdem wie sich unsere Persönlichkeit zusammensetzt, wo wir geboren wurden, wie unser Leben und das unserer Familien bisher verlaufen ist, kreuzen sich in uns als Individuen, verschiedene strukturelle, Vor – und Nachteile, also Privilegien und Diskriminierungen von denen wir betroffen sind
Da wir alle keine Leben führen, die sich nur mit einem Thema beschäftigen, wünsche ich mir, dass ihr anfangt euch mit den gesamten Lebensrealitäten anderer Menschen zu befassen. Erarbeitet euch Empathie für Menschen, die nicht eure Vorteile genießen, anstatt so zu tun, als wären diese Vorteile euer Geburtsrecht, denn das sind sie nicht. Die Vorteile, die wir genießen, haben wir nur, weil wir das Glück hatten, dort geboren zu sein, wo es sie gibt.
Was ich im nachfolgenden Text teile, sind meine Erfahrungen und meine Meinungen. Nichts hier ist vollständig, es sind kurze Auszüge aus Abschnitten meines Lebens. Zu jeder Aussage könnte ich noch dutzende ähnlicher Beispiele aufzählen.
Von intersektionaler Diskriminierung betroffen zu sein, heißt für mich vor allem Einsamkeit. Es heißt für mich, dass, egal wo ich bin, die Leute auf den ersten Blick erkennen, dass ich nicht dazu passen kann. Selbst wenn ich mich dort eigentlich zuhause fühlen möchte. Es ist schwer, Gemeinschaft zu finden, wenn alle Leute um dich herum anders sind als du und sich einen Dreck um deine Lebensrealität scheren. Das heißt nicht zwangsläufig, dass diese Leute dich hassen oder dir Böses wollen. Aber sie stehen auch nicht hinter dir, wenn du Diskriminierung erfährst, die anders ist als diejenige, die sie selbst kennen. So kann sich eine Schwarze Frau, nicht auf Unterstützung von weißen Frauen verlassen, wenn sie Rassismus erfährt. Sie kann sich auch nicht auf die Unterstützung von Schwarzen Männern verlassen, wenn sie Sexismus erfährt. Je mehr solcher Intersektionen eine Person in sich vereint, desto schwieriger ist es, Menschen zu finden, bei denen du dich sicher fühlen kannst. Bei denen du nicht ständig auf der Hut sein musst, welcher Angriff auf deine Person als nächstes angeschossen kommt. Dabei spreche ich hier vor allem von Mikroaggressionen³, die (in meiner Erfahrung) größtenteils unbewusst verübt werden. Unbewusst heißt hier nicht, dass ich die Täter*innen in Schutz nehmen will. Es heißt vor allem, dass sie keine Einsicht für ihr Fehlverhalten haben werden und sich mit allen Methoden, die im Türchen über männliche Zerbrechlichkeit genannt wurden, gegen dich wehren. Also hast du nur zwei Optionen.
Erstens: Du schweigst. Du schluckst den Schmerz herunter. Du heuchelst ein Lächeln und versuchst irgendwie die Zeit zu überbrücken, bis du dich aus der Situation entfernen kannst und machst die Verletzung mit dir selbst aus. Wenn du zu den Glücklichen gehörst, die eine Gruppe „sicherer“ Menschen hat, denen du dich anvertrauen kannst, dann tust du das. Wenn du wie ich bis vor Kurzem, keine Menschen hast, denen du dich anvertrauen kannst, machst du es irgendwie mit dir selbst aus. Du weinst, schreist, machst Kunst oder Sport. Du betrinkst dich, überarbeitest dich, fliehst dich in Bücher oder Serien. Oder du hast vielleicht andere Methoden gefunden. Du machst, was du machen musst, um am nächsten Tag wieder aufstehen zu können und einer Welt zu begegnen in der du quasi allein dastehst.
Zweitens: Du wehrst dich gegen die Diskriminierung. Du argumentierst sachlich, du wirst wütend, du schreist, du erklärst zum viertausendsten Mal. Ich habe all diese Ansätze schon ausprobiert. Für mich endeten sie alle ungefähr gleich. Die Gruppe an nicht-Betroffenen hält zusammen und erklärt mir, dass das keine Diskriminierung gewesen sein kann, weil die Person es „ja nicht so gemeint hat“, weil du ja „zu empfindlich“ bist, weil du das „schon wieder falsch verstanden“ hast, weil du „es immer persönlich nimmst“ (siehe Gaslighting, Türchen 15). Die Energie, die du in dieser Diskussion mit der Horde Unbetroffener verloren hast, bekommst du so schnell nicht wieder zurück. Mich kostet das oft viele Tage oder sogar Wochen, bis ich mich emotional, mental und psychisch von solchen Situationen erholt hab.
Keine der beiden Optionen ist wirklich gut. Entweder läufst du Gefahr, dass die Unbetroffenen deine persönlichen Grenzen ständig überschreiten. Oder sie stempeln dich als Störenfried ab, der immer ihren Spaß verdirbt und nehmen deine Einwände gegen ihr diskriminierendes Verhalten schlicht nicht mehr ernst. Das kann so weit gehen, dass sie es als amüsant empfinden, dich zu diskriminieren, weil du dich dann immer so schön ärgerst. Auch das habe ich schon häufiger erlebt.
Alle Menschen haben Herausforderungen oder Probleme. Alle Menschen haben auch mal „schlechte Tage“. Aber es ist wichtig, dass du verstehst, dass es Menschen unter uns gibt, die viel größere Hürden haben. Für die es schon eine Leistung ist, wenn sie Dinge schaffen, die für dich alltäglich sind. Für viele Menschen, die mit Depressionen oder anderen psychisch-mentalen Herausforderungen kämpfen ist es z.B. eine große Errungenschaft, wenn sie ihre Küche aufräumen oder ihre Wäsche waschen. Wie oft ich schon Tage-/Wochenlang nicht gespült habe, weil es mich alle Kraft, die ich hatte, gekostet hat, in der Arbeit zu erscheinen und meinen 8h Dienst zu machen.
Die letzten 15 Jahre meines Lebens habe ich nicht nur im Kampf mit rücksichtslosen unbetroffenen Personen, sondern auch mit mir selbst verbracht. Im Kampf mit mir selbst, weil Jahrzehnte des Gaslightings und Psychoterrors von Familie, Gesellschaft, Arbeitskolleg:innen und Umfeld dazu geführt haben, dass ich wirklich geglaubt habe, dass ich das Problem bin. Ich war der festen Überzeugung, meine depressiven Phasen seien nur Zeichen meiner Faulheit, die Tatsache, dass ich fast alle Menschen gemieden habe, sei Zeichen meiner Unzuverlässigkeit. Ich war überzeugt, dass ich dumm, hässlich, unwürdig und empfindlich bin. Solange ich denken kann, kämpfe ich mit meinem Körper, weil er Kurven, Falten, Risse und Wülste hat. Wie viele Tränen ich schon in Umkleidekabinen vergossen habe, weil es im ganzen Einkaufszentrum nicht eine Hose gibt, in die meine Beine passen. Wie viele (ungefragte) Kommentare über Form und Volumen meines Hinterns ich schon (weg)ignoriert habe. Ich war bei europäischen, afrikanischen und südamerikanischen Frisör:innen, habe mir chemischen Relaxer (Haarglätter) in die Haare geschmiert bis sie ausgefallen und abgebrochen sind, um besser in die deutsche Dominanzgesellschaft⁴ zu passen. Wie oft habe ich versucht Menschen zu erklären, dass ich Deutsche bin und wie oft glaubten sie mir einfach nicht. Ich habe (fast) alle Diäten, die ihr euch vorstellen könnt durchgemacht und zeitweise einfach aufgehört zu essen, um dem weißen, westlichen Schönheitsideal zu entsprechen. Um nicht zu hören, wie Männer über meinen „fetten Arsch“ und Frauen über meine „gebährfreudigen Hüften“, wie sie in „meinem Land“ ja üblich wären, sprechen. Alles um auch irgendwo dazu zu gehören, zu dieser Gesellschaft zu gehören. Über Jahre hinweg habe ich regelmäßig mit dem Gedanken gespielt, mir das Leben zu nehmen. Vielleicht würden sie dann erkennen, dass ich nicht nur empfindlich bin. Vielleicht würden sie sehen, dass es mir wie Dreck geht. Vielleicht würde mich jemand sehen…
Bis heute werde ich ungefragt von Menschen angefasst und ich hasse es. Bis heute sprechen mich Menschen in Englisch oder gebrochenem Deutsch an, selbst wenn sie mein perfektes Deutsch schon gehört haben. Bis heute weine ich noch, wenn ich allein vor dem Spiegel stehe. Obwohl ich weiß, was mein armer Körper aushalten musste und muss. Es kostet mich bis heute viel Kraft, mich selbst zu lieben und es gelingt mir beileibe noch nicht immer. Obwohl ich seit Jahren daran arbeite zu verlernen, was mir durch Gaslighting beigebracht wurde. Wenn ich mich heute für Menschen einsetze, dann weil ich noch sehr genau weiß, wie es sich anfühlt, ganz alleine zu kämpfen, bis zum Ende meiner Kraft und darüber hinaus. Weil ich nicht will, dass Menschen, die mich kennen, jemals so einsam und verzweifelt sein müssen, wie ich es war.
Was die Einsamkeit in meiner Erfahrung noch viel schlimmer macht, ist wenn Leute dir in den Rücken fallen. Das Problem dabei ist, dass die Solidarität nicht in beide Richtungen läuft. Ein Beispiel: Vor einiger Zeit war ich mit einer Gruppe weißer cis Menschen beisammen. Die Frauen (beide weiß und zierlich) in der Gruppe berichteten von Sexismus, der ihnen widerfahren ist und ich solidarisierte mich mit ihnen. Nachdem ich zustimmend sagte, dass es ein Problem sei, wenn (cis) Männer ständig ungefragt ihre Kommentare zu weiblichen Körpern abgeben, sagte eine der beiden, dass sie das auch von fremden Frauen nicht akzeptabel findet, da das „nämlich immer die fetten und hässlichen“ seien. Da war sie wieder die „Fettenfeindlichkeit¹“. Niemand sagte etwas dagegen. Gerade noch habe ich mich für dich eingesetzt und im selben Atemzug stichst du mir in den Rücken. An dem Abend ging ich nach Hause und weinte mich in den Schlaf. Um drei Uhr nachts wachte ich wütend auf. Wütend über mich, weil ich doch wirklich dachte, weißen Leuten vertrauen zu können. Wütend, weil mir jetzt um 3:00Uhr eine gute Reaktion auf ihre Diskriminierung eingefallen war. Wütend auf egoistische, unsolidarische, nichtbetroffene, privilegierte Menschen, die mir meinen Fortschritt kaputt machen. Wütend und einsam. Inzwischen habe ich ein paar Menschen gefunden, denen ich mich anvertrauen kann. Aber es fällt mir immer noch schwer mit irgendwem zu sprechen, wenn ich mich gerade verletzlich fühle.
Wenn die Solidarität nicht in beide Richtungen geht, kann sie mir gestohlen bleiben. Wenn du nicht versuchst, ALLE Menschen mitzudenken, kann mir deine „wokeness“ gestohlen bleiben.
Mein Aktivismus kommt aus Schmerz und Einsamkeit. Mein Einsatz für Menschen, die betroffen sind, wo ich Privilegien habe, kommt daher, dass ich genau weiß, wie es ist, wenn sich niemand einen Dreck um dich schert. Darum habe ich beschlossen, nicht so zu sein. Es ist nicht schlimm, wenn du von gewissen Erfahrungen/Lebensrealitäten nichts weißt. Schlimm ist es, wenn du Leuten erzählst, dass ihre Erfahrungen unwahr sind, weil sie dir nicht in den Kram passen. Schlimm ist, wenn du selbst, nachdem du darauf hingewiesen wurdest, die Anliegen von Betroffenen ignorierst. Bsp: ich hatte einen Kollegen, der mich regelmäßig nach dem Zustand „meines Landes“ – womit er das Herkunftsland meiner Großmutter meinte – befrage und ich ihm jedes Mal wieder sagte, dass „mein Land“ hier sei. Daraufhin rollte er mit den Augen und meinte: „du weißt doch was ich meine“. Wenn dann kein ausführlicher Lagebericht folgte, galt ich als beleidigte Leberwurst.
Wenn dir dieser Text ein bisschen unstrukturiert erscheint, dann weil das Leben für viele Menschen unstrukturiert ist. Wir intersektional Diskriminierte Menschen sind gleichzeitig Schwarz, of Color, weiß, dünn, dick, weiblich, trans, neurodivers, queer, inter,jüdisch, muslimisch, chrislich, hinduistisch, atheistisch, leben mit Behinderung und/oder chronischer Krankheit, sind migriert und/oder geflohen, haben Armut, Gewalt und Traumata überlebt. Wir sind all das und so vieles mehr. Auch wenn uns die Diskriminierungen jeden Tag begleiten, bestimmen sie nicht wer wir als Menschen sind. Wir sind Eltern, Geschwister, Partnerinnen, Freundinnen, Familie (ob Blutsverwandt oder nicht), wir studieren, haben Jobs. Wir lieben, lachen, trauern, feiern, weinen, kämpfen – wir leben.
Die wunderbare Audrey Lorde sagte:
“Wir kämpfen keine ‘ein-Thema-Kämpfe’, weil wir keine ‘ein-Thema-Leben’ führen.”
(Original: “There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives”)
❓ ‘Was mach ich jetzt wenn ich das gelesen habe?’
1) nimm dir nicht heraus, Themen zu ignoriern/wegzulassen, weil du sie anstrengend oder belastend findest – dadurch wirst du Teil des Problems und machst unser Leben viel härter (PS: wir haben diesen Luxus auch nicht)
2) setz dich mit anderen Lebensrealitäten auseinander, versuch mal zu reflektieren, ob die Menschen in deinem Umfeld vielleicht vor anderen Hürden stehen als du
ℹ️ Begriffserklärungen
➡️ Ressourcen zum Weiterlernen:
- Ted Talk von Kimberlé Crenshaw (englisch)
- Podcast: BBQ – Folge zu Intersektionalität
- Podcast: Realitäter*innen
- Podcast: Tupodcast
- (Hör)Buch: Emilia Roig – Why we matter (im Aufbau Verlag)
- Buch: Schwarz wird großgeschrieben – Hrsg. Evein Obulor (&Töchter Verlag)
Instagram Channels:
[Anmerkung]
Zum Türchen, in dem es u.a. um Intersektionalät ging (Türchen 15: Male Fragility), haben wir die Kritik erhalten, dass in der Auflistung der verschiedenen Diskriminierungsformen Antisemitismus fehlt. Wir haben das in diesem Text ergänzt. Vielen Dank für die zahlreichen Rückmeldungen und die Kritik. Wir haben im Moment nicht die Kapazitäten, euch zu antworten, aber wir lesen die Mails und nehmen uns die Kritik zu Herzen. Es ist geplant, dass wir in irgendeiner Form darauf eingehen, da es uns sehr wichtig ist, auch in diesem Punkt transparent zu sein. Danke für euer Verständis und gebt uns gerne weiter Rückmeldung!