Inhaltswarnung: Reproduktion von sexistischen Verhaltensweisen, Homofeindlichkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Beleidigungen
Nach den sehr theoretischen Texten zum Thema Männlichkeitsanforderungen und dem Wunsch, das Thema konkreter zu machen, haben wir uns dazu entschieden, die Erfahrungen eines cis Manns aus der Gruppe zu teilen. Wir wissen, dass es wie ein Schlag ins Gesicht für FLINTA* sein kann, wenn hier ein cis Mann über seine Betroffenheit im Patriarchat schreibt. Gerade weil FLINTA* in diesem System – wie in vorherigen Türchen beschrieben – strukturell unterdrückt und sexualisierter Gewalt ausgesetzt werden. Wir halten es dennoch für wichtig hier so konkret auf Erfahrungen einzugehen, um cis männlichen Personen in diesem Channel Anknüpfungspunkte zu bieten, um ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und zu ändern.
Ich war schon immer eine Memme. Das wurde schon im frühesten Kindesalter in den Raufereien mit meinen Brüdern klar. Ich war meistens der erste, der geweint hat. Ich wollte den Schulranzen mit den Delfinen drauf und nicht den mit den Rennautos. Ich fand Pferde toll und wollte reiten lernen. Auch kuscheln fand ich immer super.
Aber, dass das als Junge “nicht geht” war immer klar. Meine Brüder haben vorgemacht, was geht und was nicht und spätestens im Kindergarten oder der Schule war klar, was man als Junge machen darf und was nicht. Definiert wurde das ganze von Männlichkeitsanforderungen, die natürlich nie explizit ausgesprochen wurden. Jungen, die da nicht reinpassen waren halt Memmen. So wie ich.
Doch diese Medaille hat zwei Seiten. Ich habe mich den Anforderungen schnell angepasst und mir Wege gesucht trotzdem ein mehr oder weniger beliebter Junge zu sein. Mir kam zugute, dass ich in anderen Bereichen sehr wohl die Anforderungen erfüllt habe.
Mein Mittel war und ist dafür häufig Intellekt. Wer mich ärgern wollte, den habe ich gerne mal vor der ganzen Klasse bloßgestellt. Damit habe ich mich häufig über andere gestellt und war schnell wieder in einer dominanten Position. Mir half natürlich auch, dass ich immer gut in Sport war. Im Zweifel haben die Jungs aus dem Fußballverein zu mir gehalten, auch wenn wir vielleicht nicht die besten Freunde waren.
Das war vor allem im jugendlichen Alter wichtig. Zum einen wegen des eben erwähnten Rückhalts, zum anderen als Raum, um sich gegenseitig zu pushen. Egal ob Alkoholkonsum oder Sexismus. Bei allem wurde noch einer drauf gesetzt. So war das aber nicht nur im Fußballverein, sondern auch in anderen Freundeskreisen. Irgendwann war uns egal, ob wir Menschen mit unseren Aussagen verletzen oder nicht. Ich kann mich an eine Busfahrt erinnern, in der wir Frauen aufs heftigste objektifiziert und entmenschlicht haben und dann zu den anwesenden Klassenkameradinnen sagten, dass das alles ja nicht so gemeint gewesen wäre. In unserem Wettbewerb um die heftigste Aussage, spielte die psychische Gewalt, die wir den Anwesenden dabei antaten keine Rolle. Natürlich genauso wenig, dass wir evtl. Traumata hervorholen oder sie schlicht in eine super unangenehme Situation brachten.
Die Überbietungswettbewerbe gab es quasi die ganze Zeit. Egal, ob bei Alkohol, Graskonsum, Videospielen oder Gesprächen über Politik. Auch die Folgen davon wurden immer krasser. Beginnend mit Abstürzen aufgrund von zu viel Alkohol über abgebrochene Ausbildungen bis hin zu meinem ehemaligen besten Freund in der Drogenklinik. Wir haben natürlich nie wirklich darüber geredet, wie es uns damit geht und dass wir evtl. Hilfe brauchen. Und das scheint nicht nur bei uns gewesen zu sein. Einige Statistiken¹ legen ähnliches nahe:
- Im letzten Jahrhundert war die Lebenserwartung von Männern durchweg niedriger als die von Frauen.²
- Die häufigste Todesursache von Männern unter 45 ist Suizid.²
- 95% der Gefängnisinsass*innen sind Männer.²
- 73% der vermissten Erwachsenen sind Männer.²
- 73% der wohnungslosen Menschen sind Männer.³
Dass da etwas nicht richtig läuft, war mir irgendwie klar. Benennen konnte ich es aber nie. So habe ich mich aus Wettbewerbssituation, in denen ich keine dominante Position einnehmen konnte und die mir und anderen körperlich schaden (Alkohol, Drogen, …) zurückgezogen. Stattdessen habe ich mich in intellektuelle Wettbewerbssituationen wie z.B. in der Schule begeben, in denen ich mich wohler gefühlt habe und die mir gesellschaftlich auch mehr Vorteile gebracht haben. Am Ende lief es trotz der Tatsache, dass ich z.B. der Anforderungen Alkohol zu trinken nicht mehr entsprochen habe darauf hinaus, dass ich meine Dominanzposition gestärkt habe.
Ein guter Abischnitt und Auszeichnungen bringen einen gesellschaftlich in eine dominantere Position als auf der Kirmes am meisten trinken zu können.
Dass ich mich dazu entscheiden konnte, diese Wettbewerbskontexte zu ändern, liegt wahrscheinlich auch vor allem daran, dass ich als weißer, cis Mann aus der Mittelschicht auch nie von struktureller Diskriminierung betroffen war.
Ich habe erst ziemlich spät angefangen meine Privilegien zu hinterfragen und bei sexistischen Ereignissen aktiv zu werden, z.B. Kollegen von mir nicht zu unterstützen, wenn sie einen sexistischen Kommentar machen und damit ihre Erwartung nicht zu erfüllen. Die Strategien, um Machtverhältnisse und Anforderungen abzubauen stammen aus Texten, Workshops, Podcasts etc., von denen der überwiegende Teil von FLINTA* erarbeitet wurde.
Eine der Strategien ist es, die Anforderungen bewusst nicht zu erfüllen oder an ihnen zu scheitern. Zentral dabei ist es Betroffenen zuzuhören, ihre Widerfahrnisse ernst zu nehmen und darauf einzugehen, was sie sich wünschen.
Beispiele können kleine “unmännliche” Dinge sein, wie die Beine in der Bahn eng zusammen zu haben, um möglichst wenig Raum einzunehmen oder nach dem “Vorwurf”, schwul oder asexuell zu sein, zu fragen, was daran denn so schlimm wäre, statt beleidigt zu kontern.
Das können aber auch andere Dinge sein, wie z.B. wichtige, sichtbare Aufgaben an der Arbeit abzugeben, weil andere sie besser können oder ich mir eingestehe, dass ich sie nicht schaffe. Es gehört aber auch dazu, weniger anerkannte Aufgaben wahrzunehmen, wie z.B. Ansprechpartner sein, wenn es Personen in der Gruppe nicht gut geht, oder dafür zu sorgen, dass die Technik funktioniert und es genügend Pausen gibt.
Für mich heißt das aber auch, dass ich Beziehungsarbeit übernehme und Freund*innen aktiv auf Probleme usw. ansprechen, anstatt auf “cool” zu tun. Es heißt für mich auch, mir für viele Dinge das Einverständnis einzuholen und Dinge nur zu tun, wenn die andere Person konkret ja sagt. Auch wenn ich mir dabei manchmal komisch vorkomme oder Unverständnis entgegengebracht bekomme.
Und ganz wichtig: Ich versuche, Wettbewerbe gar nicht erst zu starten oder aktiv aufzulösen. Manchmal reicht dazu ein einfacher Kommentar und manchmal bedarf es auch etwas mehr kommunikativer Arbeit und Erklärung. Am Ende lohnt es sich aber meistens, weil es oftmals eine Kaskade, wie oben beschrieben, verhindert.
Einige Anmerkungen zum Schluss:
Es muss klar sein, dass es so etwas wie “die kritische Männlichkeit” oder “den guten Umgang” mit seinen Privilegien – gerade als cis Mann – nicht gibt. Die beschriebenen Ansätze und Ideen, im Alltag auf diese Dinge einzugehen, sind keinesfalls vollständig oder auf alle übertragbar. Es gibt keine Checkliste, die abgehakt werden kann. Zudem ist das auch nur die Spitze des Eisbergs, denn wie wir in vielen Türchen vorher gesehen haben, sollten die Lebensbedingungen der FLINTA* bei solch einer Auseinandersetzung eine zentrale Rolle spielen.
So bekomme ich auch häufig Anerkennung und positives Feedback für diese Auseinandersetzung. Allerdings ist es erstens das Mindeste, als privilegierte Person – hier als cis Mann – Privilegien zu nutzen, um patriarchale Strukturen abzubauen.
Und zweitens kam die Initiative nicht von mir. Neben hunderten Jahren an Theorien, Organisierung und Kämpfen von Feminist:innen, die diese ganze Vorarbeit überhaupt geleistet haben, waren es auch in meinem Umfeld vor allem FLINTA*, ohne deren Anstöße ich niemals auf solche Gedanken gekommen wäre.
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¹ In der Statistik werden nur Männer und Frauen als Geschlechtsidentitäten betrachtet und die Existenz anderer Geschlechtsidentitäten wird nicht berücksichtigt.
❓Reflexionsfragen:
- Fallen dir ähnliche Anforderungen in deinem Leben ein? Wie gehst du damit um? Wie würdest du gerne damit umgehen?
- Hast du an irgendeiner Stelle innerlich abgeblockt oder dir gedacht, dass du sowas nie machen würdest? Wenn ja, warum?
- Hast du dich in einigen Situationen selbst wiedergefunden? Wie bist du damit umgegangen?
- Denkst du in deinem Alltag oft darüber nach, welche Anforderungen an dich gestellt werden, welche Anforderungen du an andere stellst und wie sich diese auf dein Handeln auswirken?
- Wurdest du schonmal gemobbt, weil du Männlichkeitsanforderungen nicht genügen konntest?
- Hast du schonmal andere Menschen gemobbt, weil sie Männlichkeitsanforderungen nicht genügen konnten?
- Hast du “freund:innenschaftlichen” körperlichen Kontakt (kuscheln, umarmen) mit Männern genauso gerne und oft wie mit FLINTA*?
- Hattest du als Kind/Jugendlicher Druck von Erwachsenen (Lehrer:nnen, Erzieher:innen, Trainer*innen etc.) bestimmten Männlichkeitsanforderungen zu genügen?
- Wurdest du schon mal von Männern darauf hingewiesen, dass dein eigenes Verhalten übergriffig war?
- Hast du schon Männer gesagt, dass sie sich übergriffig verhalten haben?
ℹ️Quellen und Links zur Vertiefung: