Hegemoniale Männlichkeit

Das, wofür Connell vor allem bekannt ist, ist ihr Konzept der “Hegemonialen Männlichkeit”, das in diesem Text vorgestellt werden soll. Als eine der ersten Theoretikerinnen analysiert sie Männlichkeit, indem sie sich auf Hierarchien und Machtbeziehungen von Männern konzentriert. 
Sie erkennt an, wie wichtig es ist, im Kontext vorherrschender Unterdrückungssysteme verschiedene Männlichkeiten zu unterscheiden. Allerdings argumentiert sie, dass solche Beschreibungen zu starr seien und suggerieren, es gäbe z.B. nur eine Schwarze Männlichkeit oder nur eine Arbeiterklassen-Männlichkeit.
Connell plädiert also für einen dynamischen Ansatz: Sie möchte mit der folgenden Einteilung eben keine festen Charaktertypen, sondern Handlungsmuster innerhalb bestimmter Situationen und Kontexten beschreiben. Es geht ihr hier darum, Positionen in einer Hierarchie unter Männern deutlich zu machen und ihre Wechselwirkung herauszustellen.

1. Hegemonie

Die erste Position in der männlichen Hierarchie nennt Connell hegemoniale Männlichkeit. Sie bezieht sich dabei auf Antonio Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie. Diese beschreibt, wie ein Machtverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten aufrechterhalten wird: Das geschieht einerseits durch Ausübung und Androhung von Gewalt. Dies aber vor allem gegen diejenigen, die das Herrschaftsverhältnis in Frage stellen. 
Allerdings gibt es noch eine weitere wichtige Komponente: Es wird “Macht durch Konsens” aufrechterhalten. Das bedeutet, dass die Vormachtstellung einer bestimmten Gruppe durch Wertvorstellungen der Gesellschaft legitimiert ist. Es gibt also Überzeugungen und Normen, in denen die gegebenen Verhältnisse als selbstverständlich und bestmöglich anerkannt werden. Somit besteht die Macht der Herrschenden auch ganz explizit aus ihrer Akzeptanz in der Zivilgesellschaft, die deshalb auch keine Gewalt fürchten muss. Gleichzeitig sorgen die Machthabenden dafür, dass diese Ideologie weiterhin verteidigt wird und sichern so ihre Machtposition ab.

Connell überträgt diesen Gedanken auf das Geschlechterverhältnis. Hegemoniale Männlichkeit verkörpert also derzeit anerkannte Strategien, um Macht zu erlangen und aufrechtzuerhalten. Mit ihr soll die Dominanz der Männer und die Unterordnung der Frauen gewährleistet werden.
Connell nennt für hegemoniale Männlichkeit extra keine bestimmten Eigenschaften oder Verhaltensweisen. Einerseits möchte sie genau nicht bestimmte Charaktertypen o.Ä. entwickeln, anhand derer es möglich wäre, Männer statisch einzuordnen. Daraus folgt auch, dass eben nicht jeder mächtige Mann der momentanen hegemonialen Männlichkeit entspricht oder dass jeder Mann mächtig ist, der es tut. Andererseits betont sie, wie unterschiedlich hegemoniale Männlichkeit in verschiedenen lokalen, historischen oder globalen Kontexten sein kann. Außerdem kann sie ständig herausgefordert werden und ist  stets Spannungen und Veränderung unterworfen.

Um trotzdem eine ungefähre Vorstellung zu bekommen, was das heißt, wollen wir Stuve und Debus’ Interpretation teilen. Sie schreiben dazu: 

“Derzeit stellen sich (in der BRD und ähnlichen Gesellschaften) Männer in dieser Position in hohem Maße als leistungsfähig und -bereit, belastbar, entscheidungs- und durchsetzungsfähig dar. Zentral für die Position hegemonialer Männlichkeit ist ein selbstsicherer, sachkundiger Umgang mit der eigenen Machtposition. Männer in dieser Position bieten wenige Angriffsflächen für Kritik und die Strategien des Umgangs zur Durchsetzung der Machtposition sind unter anderem Charme, Eloquenz, Ironie und Effizienz.”²

Stuve und Debus

2. Komplizenschaft

Die nächste Position in der männlichen Hierarchie nennt Connell komplizenhafte Männlichkeit. Connell schreibt hierzu: 

“Die Anzahl von Männern, die das hegemoniale Muster wirklich rigoros und vollständig umsetzen oder praktizieren, mag recht klein sein. Trotzdem profitiert die überwiegende Mehrzahl der Männer von der Vorherrschaft dieser Männlichkeitsform, weil sie an der patriarchalen Dividende teilhaben, dem allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst.”¹

Connell

Stuve und Debus fassen zusammen:

“Diese Form von Männlichkeit stützt die hegemoniale Männlichkeit ab, übt keine Kritik an Männlichkeitsnormen und verhält sich nicht solidarisch mit den Jungen/Männern und Mädchen/Frauen, die unter Männlichkeitspraxen leiden. So – gewollt oder ungewollt – sichert sie hegemoniale Männlichkeit ab.”²

Stuve und Debus

Komplizenhafte Männlichkeit schafft und verteidigt also einen allgemein anerkannten Rahmen an Wertvorstellungen und Normen. Diese können durchaus widersprüchlich sein und sind nicht überall die gleichen. Damit sind Vorstellungen gemeint wie z.B. die Binarität zweier Geschlechter, die geschlechtsspezifische Aufteilung der Care- und Reproduktionsarbeit, die Vormachtstellung und Überlegenheit alles “Männlichen” über dem “Weiblichen”, die dazugehörige Einordnung in männlich und weiblich oder auch dass es Sexismus nicht gibt. 
Damit wird die Macht hegemonialer Männlichkeit und somit auch die Vorherrschaft von Männern über Frauen gewährleistet und männliche Privilegien abgesichert. Connell beschreibt diese Position als eine, die auch Kompromisse eingehen muss: Viele Vertreter “achten ihre Frauen und Mütter, sind nie gewalttätig gegenüber Frauen, übernehmen ihren Anteil an der Hausarbeit”¹, aber belächeln Feminist*innen doch eher oder werten sie ab.

3. Unterordnung

Unterdrückung und Abwertung von Männern untereinander spiegeln sich in untergeordneter Männlichkeit wider. Das funktioniert insbesondere mit Gegensätzen: Es wird all das untergeordnet, was nicht hegemonial männlich (und somit auch oft weiblich) eingeordnet wird. Die wichtigste dieser Unterordnung sind laut Connell homosexuelle Männlichkeiten:

“Durch diese Unterdrückung geraten homosexuelle Männlichkeiten an das unterste Ende der männlichen Hierarchie. Alles, was die patriarchale Ideologie aus der hegemonialen Männlichkeit ausschließt, wird dem Schwulsein zugeordnet.”¹

Connell

Unterordnung und Ausschluss können jedoch alle Männer erfahren, die als nicht männlich genug gelten und mit Wörtern wie Schwächling, Memme, Streber, Feigling o.Ä. beschimpft/abgewertet werden. 

4. Marginalisierung

Neben den drei genannten Positionen in der Hierarchie zwischen Männern, stellt Connell mit der Marginalisierung das Zusammenspiel mit anderen Unterdrückungsformen wie Klassismus oder Rassismus heraus. Stuve und Debus schreiben:

“Hiermit ist eine Position gemeint, die aufgrund anderer gesellschaftlicher Ausschlüsse kaum bzw. nur unter sehr erschwerten Bedingungen Zugang zu einer hegemonialen Männlichkeitsposition erlangen kann.”²

Stuve und Debus

Connell möchte insbesondere deutlich machen, dass beschriebene Männlichkeitsdynamiken auch in Antirassismus- oder Klassenkämpfen berücksichtigt werden müssen.  Sie geht dabei auf Schwarze Männlichkeiten ein: Sie werden explizit durch die Unterdrückung einer rassistischen Gesellschaft konstruiert und geformt. Gleichzeitig werden sie für rechte Narrative instrumentalisiert, wie die Phantasiegestalt des Schwarzen Vergewaltigers. Connell beruft sich dabei auch auf das Buch “Black Masculinity” von Robert Staples³, der herausstellt, wie Klasse und Rassismus Schwarze Männlichkeit in den USA prägen.
Ausschlüsse marginalisierter Männnlichkeiten können in allen oben genannten Positionen (Hegemonie, Komplizenschaft, Unterordnung) stattfinden. Diese Dynamiken zu analysieren ist eine besonders schwierige Aufgabe, der sich teilweise auch intersektionale Theorien widmen. Connell geht darauf in Kapitel 8, der Geschichte von Männlichkeit noch etwas weiter ein. Dort geht es vor allem um Männlichkeit im Kontext von Gewerkschaften und Rassismus. 

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Mit diesen Positionen möchte Connell also einen Rahmen bieten, um Männlichkeit zu analysieren. Das Konzept weist besonders auf die Veränderlichkeit von Männlichkeit hin und fasst sie im Kontext von Machtbeziehungen und Hierarchien auf.
Deshalb ist ihr Werk auch bis heute noch relevant in der Forschung und Theorie. Connell selbst hat sich auch später noch tiefergehend mit Kritik auseinandergesetzt und Ideen gehabt, das Konzept weiter- und umzudenken.⁴ 

➡️Zum Weiterlesen

¹R W. Connell: Der gemachte Mann. Springer VS, 2015: 4. dt. Auflage.

²O. Stuve und K. Debus: Männlichkeitsanforderungen. In: Dissens e.V. & Debus, Katharina/Könnecke, Bernard/Schwerma, Klaus/Stuve, Olaf (Hrsg.) (2012): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule.

³Robert Staples: Black Masculinity: The Black Male’s Role in American Society. Black Scholar Pr (1. Februar 1982).

R. W. Connell and James W. Messerschmidt: Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept. In: Gender and Society, Vol. 19, No. 6 (Dec., 2005), pp. 829-859.