Die marginalisierte Männlichkeit hebt die Verknüpfung zu anderen Unterdrückungssystemen hervor. Wie schon im letzten Text erwähnt, beschäftigt sich Connell im 8. Kapitel ihres Buchs “Der gemachte Mann” ausführlich mit verschiedenen Entstehungs- und Formungsprozessen von Männlichkeiten. Dabei werden Männlichkeit und Weiblichkeit als Geschlechterprojekte verstanden, die nicht starr sind, sondern sich in einer andauernden Wechselwirkung mit ihrer Entstehung, historischen Kontexten und Umgebung befinden. Die Analyse bezieht sich vor allem auf die Industriestaaten.
Gewerkschaftsbewegung und Männlichkeit
Die Gewerkschaftsbewegung genießt in linken Kreisen häufig ein großes Ansehen. Ihre Entstehung und Fortbestand stehen laut Connell jedoch auch in einem Zusammenhang mit der Entfernung von Frauen aus Machtpositionen.
Eine zunehmende Industrialisierung in den westlichen Nationen verwandelte die Landbevölkerung weitreichend in eine städtische und industrielle Arbeiterklasse um. Mit der neuen Arbeitsform wurde eine klare Trennung von Lohnarbeit und Haushalt etabliert. Die vergleichsweise gut bezahlten industriellen Löhne erzeugten ein finanzielles Ungleichgewicht im Haushalt und somit auch ein Machtgefälle.
In Wechselwirkung mit diesen Veränderungen entstanden “passende” Männlichkeiten, die sich definierten über:
– ihre Fähigkeit Geld zu verdienen,
– ihre handwerklichen Fähigkeiten,
– ihre patriarchale Position in der Familie und über
– eine kämpferische Solidarität mit Kollegen.
Die Wirklichkeit stand allerdings in einem Widerspruch mit diesen Vorstellungen von Männlichkeit. Frauen stellten einen Großteil der Arbeiterinnen in der Textilindustrie, arbeiteten auch an Hochöfen, im Kohlebergbau und in Druckereien. Zusätzlich waren sie maßgeblich an Arbeitskämpfen beteiligt. Zur Umsetzung und weiteren Etablierung der Arbeiterklassen-Männlichkeit war somit die Entfernung der Frauen aus der Schwerindustrie essentiell. Sie beförderte außerdem die damalige bürgerliche Ideologie der Trennung der Sphären und der Strategie eines Familieneinkommens für Männer.
“Die Gewerkschaftsbewegung kann als die Institutionalisierung dieser Art von Männlichkeit betrachtet werden.”¹
Damit steht die Entstehung der Gewerkschaftsbewegung in direktem Zusammenhang mit der Entmächtigung von Frauen. Aufgrund des Fortbestand von Arbeiterklassen-Männlichkeiten, der Entstehungsgeschichte und damit verbundenen Dynamiken sind Gewerkschaften im Sinne von Connells Theorie als männliche Institutionen zu verstehen.
Rassismus und Männlichkeit
Die aktuelle weiße Vorherrschaft hängt auch mit der rassistischen Konstruktion von schwarzer Männlichkeit zusammen. Die (vermeintlich) wirtschaftliche Logik führte zu starken Bevölkerungsbewegungen von Arbeitskräften zwischen Kontinenten (Versklavung und Zwangsarbeit oder “freiwillige” Emigration).
Das Vermächtnis von diesen Bevölkerungsbewegungen war eine Rassenhierarchie, die stark mit der Konstruktion von Männlichkeit zusammenhing. Ein anschauliches Beispiel bietet die Konstruktion von Männlichkeit von Schwarzen. Diese wurde in der Regel als sexuelle und gesellschaftliche Gefahr für die vorherrschende weiße Kultur betrachtet.² Damit wurde eine Geschlechterideologie gerechtfertigt, die zu politischem Rassismus und scharfen Überwachungsmaßnahmen in verschiedenen Staaten (USA, Frankreich, Südafrika, …) führte.
Somit verstärkte die rassistische Konstruktion von Männlichkeit eine patriarchale Geschlechterideologie und weiteren Rassismus in den Gesellschaften der Industrienationen.
“[Wir] sehen […] eine Welt, die von europäischen Weltreichen geprägt wurde, komplexe Geschlechterbeziehungen, in denen dominante, untergeordnete und marginalisierte Männlichkeiten ständig miteinander interagieren, damit die Existenzbedingungen einer jeden Form von Männlichkeit verändern und sich dabei auch selbst wandeln.”¹
Die gegenwärtige Lage
Um zu verstehen, wie es global betrachtet um Männlichkeiten heutzutage steht, ist laut Connell vor allem eine Erkenntnis grundlegend. Die westliche Geschlechterordnung wird immer weiter in die kolonisierte und kapitalisierte Welt exportiert.
Dadurch wird die Vielfalt von Geschlechterordnungen auf der Welt durch eine globale Geschlechterordnung ersetzt. In dieser sind westliche Geschlechterarrangements wiederum hegemonial und die hauptsächlichen Nutznießer dieser Weltordnung sind, als Kollektiv, die Männer der Industrienationen. Sichtbar wird das über die ungeheuer angewachsene Macht, sowohl über natürliche Ressourcen, als auch über andere Völker.
Durch diese enorme Zunahme an tatsächlicher Macht von Männern in den Industrienationen ergaben sich mehr Angriffspunkte an der Geschlechterordnung. Unter anderem deutlich vermehrte Angriffe des Feminismus auf männliche Privilegien in reichen Ländern sorgten für einen Legitimationsverlust des Patriarchats. Beispiele sind die MeToo-Bewegung, die Debatten über Gender Sprache und die Umsetzung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Massenmedien ermöglichten eine weltweite Verbreitung, woraufhin “der ‘westliche’ Feminismus [mittlerweile] in einen vielschichtigen und spannungsreichen Dialog mit dem Feminismus in den Entwicklungsländern getreten [ist], beispielsweise über das Vermächtnis von Kolonialismus und Rassismus.”¹
Ebenso tiefgreifend ist laut Connell die Herausforderung der hegemonialen Heterosexualität durch die Schwulen und Lesbenbewegung. Hier fand keine so starke Verbreitung statt, weshalb es den meisten heterosexuellen Männern möglich ist, diese Anfechtung zu verdrängen und sie als eine Minderheitenfrage abzutun, die sie nicht betrifft. Die Geschlechterordnung hat durch die Stabilisierung der “gay communities” eine Art ständiger Alternative bekommen, die zwar eine loyale Opposition darstellt, aber verringert, wie sehr die hegemoniale Heterosexualität das Vorstellungsvermögen beherrschen kann.
“Die Männer in den führenden Industrienationen befinden sich geschichtlich betrachtet in einer paradoxen Situation. Wie keine Klasse der Menschheit zuvor haben sie die Macht in Händen, die Zukunft zu gestalten, akkumulierte Ressourcen, naturwissenschaftliche und Sozialtechniken. Und gleichzeitig haben der Feminismus, die sexuellen Befreiungsbewegungen und utopisches Denken mehr Zukunftswürfe als jemals zuvor entstehen lassen. Aber die Kategorie „Männer“ in den reichen Nationen ist keine Gruppe, die beratschlagen und sich für eine neue historische Perspektive entscheiden könnte. Wie wir festgestellt haben, sind die Differenzen innerhalb dieser Kategorie sehr weitreichend. Aber soweit diese Männer ein gemeinsames Interesse teilen, als Folge der ungerechten Verteilung der Ressourcen in der Welt, aber auch innerhalb der wohlhabenden Nationen, werden sie sich utopischen Veränderungen widersetzen und den Status Quo verteidigen.”
Die Männer der führenden Industrienationen werden somit nicht die Veränderungen initiieren, die für die Abschaffung von Unterdrückungssystemen notwendig ist. Deswegen ist es essentiell, dass Entscheidungspositionen und Macht umverteilt werden.
➡️Zum Weiterlesen:
¹R W. Connell: Der gemachte Mann. Springer VS, 2015: 4. dt. Auflage.
²Robert Staples: Black Masculinity: The Black Male’s Role in American Society. Black Scholar Pr (1. Februar 1982).