Inhaltswarnung: Vergewaltigung
Seit ich Jugendliche bin, weiß ich, dass vergewaltigt zu werden das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Es ist der Grund warum mir dunkle Straßen Angst machen und warum mir meine Eltern nie erlaubt haben, nachts alleine nach Hause zu gehen. Zwar gibt es Tricks wie telefonieren, Schlüssel in der Hand, Trillerpfeife und Pfefferspray, sicher hab ich mich damit nachts aber nie gefühlt.
Ich hatte ein ziemlich genaues Bild von Vergewaltigung im Kopf: nachts im Park kommt jemand von hinten, zerrt dich in einen Busch, vergewaltigt dich auf brutalste Art und Weise und bringt dich danach um. Vergewaltigung war damit immer mit dem Tod oder zumindest Todesangst verbunden. Ich habe mir oft überlegt, ob ich mitmachen würde, um am Ende nicht umgebracht zu werden. Ich hab mich gefragt, ob ich mich wehren würde, ob ich schreien würde, ob ich den Mut hätte, um mich zu schlagen oder ob ich stillhalten würde. Stillhalten und danach abtreiben. All diese Fragen begleiten mich noch immer, wenn ich nachts allein unterwegs bin.
Als ich gerade 16 geworden war, haben wir Silvester mit ein paar guten Freund*innen gefeiert. Weil wir es gemütlich fanden, haben wir nach einem wunderbaren Abend zu viert in einem 1,40m Bett geschlafen. Auf der Seite liegend, er hinter mir, sind wir eingeschlafen. Irgendwann bin ich aufgewacht. Seine Hand hat in meiner Unterhose meine Vulva erkundet, seine Finger haben ihren Weg in meine Vagina gefunden. Ich war völlig perplex, habe überhaupt nicht verstanden, was passiert und wollte, dass er aufhört. Ich konnte nichts sagen und habe mich total geschämt. Ein bisschen hab ich mich geräkelt, so getan, als würde ich halb aufwachen. Aber weil er nicht aufgehört hat, hab ich mich wieder schlafend gestellt und einfach abgewartet. Ich habe ihn nie zur Rede gestellt. Wir waren einfach weiter befreundet.
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das als Vergewaltigung zu bezeichnen. Es war nicht brutal genug, ich kannte den Täter, wir waren befreundet und es war doch alles nicht so schlimm. Ich konnte das Ereignis gut vergraben und habe 5 Jahre lang nicht mehr dran gedacht. Ich habe mich weiter mit anderen Jungs getroffen und hatte nie das Gefühl, traumatisiert zu sein.
Erst seit #metoo habe ich wieder über die Nacht nachgedacht und verstanden, dass das, was damals passiert ist, nicht in Ordnung war. Ich kriege es mittlerweile hin, das Wort “übergriffig” für das Verhalten zu verwenden. Und ich frage mich seitdem, warum ich so reagiere, wie ich reagiere.
Ich frage mich, ob ich irgendwie zu jung war, um zu checken, was passiert war. Ich frage mich, warum ich nichts gesagt habe. Ich frage mich, ob ich damals einfach nicht wusste, dass meine Grenzen und Bedürfnisse valide sind. Manchmal frage ich mich auch, was ich falsch gemacht habe. Lagen wir so nah beieinander, dass man schon denken könnte, es wäre legitim, mir in die Unterhose zu fassen? Wollte er nur mal gucken, wie sich meine Vulva anfühlt? Hatte er selbst überhaupt verstanden, dass das nicht in Ordnung war, was er da tat? Fragen, die versuchen, sein Verhalten zu entschuldigen.
Nach der gesetzlichen Definition von Vergewaltigung, würde das, was ich erlebt habe, wahrscheinlich auch darunter fallen. Aber ich würde das Wort trotzdem nicht in den Mund nehmen. „Sexualisierte Gewalt“, ja, das vielleicht, das klingt etwas abstrakter, nicht so direkt. Schließlich will ich auch nicht all die “wirklich schlimmen” Erfahrungen, die mit dem Tod oder posttraumatischer Belastungsstörung enden, relativieren.
Und dann frage ich mich, ob das alles nicht nur ein mieser Mechanismus ist, um uns weiter zum Schweigen zu bringen und weiter die Fehler bei uns selbst zu suchen. Indem viele von uns ständig das Gefühl haben, es sei “nicht schlimm genug” was wir erleben oder es entspräche nicht dem Bild, das wir von Vergewaltigung haben. Vergewaltigung passiert nicht nur “nachts im Park” und sexualisierte Gewalt fängt nicht erst dort an. Nichts davon ist jemals okay. Und wir haben immer das Recht, uns dagegen zu wehren.