Warum es so wichtig ist, über sexualisierte Gewalt zu sprechen

Inhaltswarnung: sexualisierte Gewalt

Was willst du noch alles hören?

Eine Freundin wurde von einem Mann beim Baden im See beobachtet, er masturbierte. Eine Freundin ist nachts aufgewacht, weil sie nach einer WG-Party eine fremde Hand in ihrer Hose fühlte. Eine Freundin hatte eine Hand in ihrer Hose, obwohl sie mehrmals “Nein.” gesagt hat. Eine Freundin wurde im Bus angeschrien und als “Schlampe” bezeichnet, weil man ihre Nippel unter ihrem Shirt gesehen hat. Eine Freundin schrieb “me too” an eine Wand. Eine Freundin wurde von ihrem Bruder als Kind genötigt, seinen Penis anzufassen. Eine Freundin hat mehrmals Stealthing erlebt. 
Sexualisierte Gewalt ist ein strukturelles Problem, es sind keine Einzelfälle.
Wir wollen nicht jedes Mal, wenn es um (sexualisierte) Gewalt geht, Erfahrungsberichte von Menschen über ein traumatisches Erlebnis abdrucken müssen, um zu validieren, wie wichtig es ist, über das Thema zu sprechen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt den Anteil der Frauen, die global von sexualisierter Gewalt und anderen Formen der physischen Gewalt betroffen sind, auf etwa ein Drittel. Menschen, die von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen sind, erleben noch häufiger (sexualisierte) Gewalt. 
In einer Studie von LesMigraS gaben rund 65% aller befragten trans*¹ Personen an, schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Eine US-amerikanische Studie der Human Rights Campaign zu sexualisierter Gewalt hat ergeben, dass bisexuelle² Menschen etwa doppelt so häufig wie heterosexuelle³ Menschen sexualisierte Gewalt erleben. Auch Menschen mit Behinderungen sind häufiger von Gewalt betroffen als Menschen ohne Behinderungen. Etwa 70 bis 90 Prozent der Frauen mit Behinderungen erleben in ihrem Erwachsenenleben physische Gewalt, dazu zählt auch sexualisierte Gewalt. Eine weitere betroffene Gruppe sind Kinder. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, die WHO schätzt aber, dass allein in Deutschland etwa eine Million Kinder und Jugendliche von sexualisierter Gewalt durch Erwachsene betroffen sind.

Die Folgen

Wichtig ist, dass die Gewaltanwendung des Täters*der Täterin auf einem Spektrum von unbewussten und bewussten Grenzüberschreitungen geschieht. Jemand, der sich zum Beispiel während dem penetrativen Sex das Kondom gegen oder ohne den Willen der anderen Person abzieht (Stealthing⁴ genannt), kann dies naiverweise tun, weil die Person sich einfach nicht bewusst ist, dass sie damit die Entscheidungsmacht einer anderen Person über ihren Körper verletzt. Oder sie tut es in vollem Bewusstsein darüber, dass sie die Grenzen einer Person überschreitet. Die von Stealthing betroffenen Personen erleben die Situation aber als eine, in der ein anderer Mensch ohne ihre Einwilligung eine Entscheidung für und über ihren Körper getroffen hat. Jemand hat sich aktiv über ihren Willen, sich vor sexuell übertragbaren Krankheiten oder einer Schwangerschaft zu schützen, hinweggesetzt. Sie werden, egal welche (Un-)Absicht des Täters dahintersteckt, mit den Folgen zurechtkommen müssen. Handlungen können also auch unbeabsichtigt Schäden für andere Menschen nach sich ziehen.
Solche Gewalterfahrungen haben nicht nur physische, sondern auch psychische Folgen. Dazu gehören Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Angstzustände und Panikattacken.
Das Gefühl, dass ein anderer Mensch die eigenen persönlichen Grenzen missachtet und überschreitet, ist entmächtigend. Dabei ist es egal, ob das absichtlich oder unabsichtlich passiert. Der Autonomie über den eigenen Körper beraubt worden zu sein, ist grausam. Und die Person wird gewiss noch lange mit den Folgen zu kämpfen haben. Allein, aber auch in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen.

Wie du siehst, hat ein großer Teil aller Menschen schon einmal Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht und viele von ihnen erleben psychische Folgen. 
Deswegen ist es so wichtig, viel Sensibilität im Umgang mit sexualisierter Gewalt zu zeigen.

Quellen

https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/ursachen-und-folgen
https://www.hrc.org/resources/sexual-assault-and-the-lgbt-community
https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women

ℹ️ Begriffserklärungen

¹ Trans*, transgender, transgeschlechtlich, transident, transsexuell: Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt meist aufgrund der Interpretation ihrer Genitalien zugewiesen wurde. Wir verwenden trans* als Überbegriff für alle genannten Begriffe.

² Bisexualität: Eine sexuelle bzw. amouröse Orientierung, die sich auf Personen mindestens zweier Geschlechter bezieht. Manche Bisexuelle interessieren sich für Männer und Frauen, manche für Menschen aller Geschlechter.

³ Heterosexualität: sexuelle bzw. romantische Orientierung, die sich im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit auf Personen des anderen Geschlechts richtet: Männer/Jungen, die sich sexuell/romantisch (nur) zu Frauen/Mädchen hingezogen fühlen. Frauen/Mädchen, die sich sexuell/romantisch (nur) zu Männern/Jungen hingezogen fühlen. Heterosexualität ist historisch ein Gegenbegriff zu Homosexualität.

⁴ Stealthing: (von engl. stealth = List, Verstohlenheit, Heimlichtuerei) ist eine Form des Missbrauchs, bei der ein Sexualpartner das Kondom heimlich und ohne Einwilligung des anderen Partners entfernt oder beschädigt und anschließend Geschlechtsverkehr ausübt.