Laut rumbrüllen, dominant auftreten, Gewaltbereitschaft – diese und andere gefährliche Aspekte von Männlichkeit werden oft unter dem Begriff “Toxische Männlichkeit” gefasst. Dieser legt nahe, dass es im Gegensatz zur toxischen eine unproblematische Männlichkeit gibt. Diese wird dann als ‚Progressive Männlichkeit‘ oder “Kritische Männlichkeit” bezeichnet. Progressive Männlichkeit ist also eine Form des Mann-Seins, die nicht toxisch für sich selbst und andere ist. Progressive Männlichkeit bedeutet die eigene Männlichkeit zu reflektieren, weinen zu können und auch mal unsicher zu sein. Kritische cis hetero Männer spülen ab und lackieren sich auch mal die Fingernägel.
Klingt nach einer sehr einfachen Lösung für ein so komplexes Thema. Das sollte uns stutzig machen!
Wenn Männlichkeit nur von ihren vordergründig schlechten Eigenschaften befreit und ein paar neue, nette Eigenschaften hinzugefügt werden, dann ändert sich trotzdem nichts am Geschlechterverhältnis. Entschuldigt das abgedroschene Bild: Die Schublade ‚männlich‘ wird vielleicht entrümpelt, bleibt aber intakt und vor allen Dingen an ihrer privilegierten Position im Regal. Es muss vielmehr um eine Kritik an Männlichkeit und den damit verbundenen Machtverhältnissen gehen und nicht nur um eine “Kritische Männlichkeit”.
Dass der Inhalt der Schublade ‚Männlichkeit‘ wandelbar ist, wird auch im historischen oder interkulturellen Vergleich sichtbar: Was unter (gesellschaftlich akzeptierter) Männlichkeit verstanden wird, kann verschieden sein. Manchmal dürfen Männer Schmuck tragen, manchmal entmännlicht er sie. Manchmal sind die romantischen Minnesänger die Frauenhelden, manchmal ist es Vin Diesel. Was dabei aber immer gleich bleibt, ist die Schublade ‚Männlichkeit‘.
In verschiedenen Lebensbereichen werden beispielsweise zunehmend Eigenschaften wichtig, die eher im Widerspruch zur klassischen männlichen Sozialisation stehen. Neue Männlichkeitsanforderungen wie zum Beispiel Einfühlungsvermögen, Reflektiertheit, Teamfähigkeit, Kommunikation oder Kindererziehung werden häufiger nachgefragt. Also müssen sich Männer in vielen Lebensbereichen ein gewisses Update verpassen, um nicht bald aussortiert zu werden.
Es reicht aber nicht, wenn kritische Männlichkeit nur bewirkt, dass leicht veränderbare und oberflächliche Verhaltensweisen abgelegt werden und neuen Anforderungen genügt wird, während die Macht in gleichen oder anderen Lebensbereichen immer noch an Männer (jetzt eher die “Kritischen”) verteilt wird.
Dass die Schublade ‚männlich‘ trotz Entrümpelung bestehen bleibt und auch noch weiterhin wirkmächtig ist, zeigt sich außerdem, wenn cis Männer gegenseitig in Konkurrenz darum treten, wer denn jetzt woker sei und wer stärker seine Männlichkeit hinterfrage. Und zack fertig: Klassische, männliche Konkurrenz im Mantel des Feminismus.
Und hier zeigt sich, dass mit einer individuellen Neuauslegung von Männlichkeit das Geschlechterverhältnis nicht angerührt wird. Cis Männer kriegen auch mit lackierten Fingernägeln noch mehr Lohn als Frauen. Es bleibt also das eigentliche Problem – die Unterdrückung durch das Patriarchat – bestehen.
Und was bedeutet das jetzt für den kritischen Kalender? Erstmal die Verunsicherung und Widersprüchlichkeit akzeptieren! Es geht darum, die eigene Männlichkeitsarbeit immer wieder zu hinterfragen. Männlichkeitsarbeit darf nicht nur oberflächlich um die eigene Männlichkeit kreisen, sondern sollte immer die bestehenden Herrschaftsverhältnisse hinterfragen und feministische Kämpfe unterstützen.
Dieser Text wurde von zwei männlich-sozialisierten Personengeschrieben.
➡Lese- und Hörtipps
- Für die, die sich gerne etwas anhören: Hier gibt es einen Vortrag von Kim Posster, in dem in einer knappen Stunde, sehr gut, anschaulich und tiefgehend die kritische Männlichkeit kritisiert.
- Zur Kritik am Begriff der toxischen bzw. progressiven Männlichkeit
- Zu möglichen profeministischen Praxis-Ansätzen
- Folgender Blog beschäftigt sich mit Männlichkeitskritik und hat eine ausführliche Lese-Ecke