Schwäche zeigen, aber nur wenn es eine Stärke ist

Ich glaube schon, dass ich ganz gut über Gefühle reden kann. Ich bin empathisch, kann gut kuscheln, in den Arm nehmen, für Menschen da sein, wenn ich die Ressourcen dazu habe und kann mich gut öffnen. Zumindest wird mir das von einigen Freundinnen rückgemeldet. Ich bin also einer von diesen ‘modernen’ und gefühlvollen Männern. Einer, der traditionelle Männlichkeitsanforderungen¹ abgelegt hat? Einer von den Guten?

Mein Freund*innenkreis ist tatsächlich überwiegend cis¹ weiblich. Ich fühle mich gerade in engeren Beziehungen oft mit cis Frauen wohler als mit cis Männern. Das zeigt sich besonders dann, wenn es darum geht über Gefühle reden, sie zu verstehen, Schwäche und Unsicherheit zu zeigen und zu Kuscheln. Das sind Dinge, die nicht den typischen Männlichkeitsanforderungen² entsprechen und die damit nicht unter cis Männern gemacht werden, sondern traditionellerweise eher (Liebes-)Beziehungen mit cis Frauen bieten sollen. Dinge, die auch ich doch eher mit cis Frauen als mit cis Männern mache.

Abgesehen von der internalisierten³ Homofeindlichkeit⁴, die körperliche Nähe zu männlichen Freunden prägt, fühlt es sich bei Frauen in meinem Umfeld einfach angenehmer an, über Gefühle zu sprechen und Nähe zu zeigen.
Bei ihnen habe ich weder das Gefühl mir in irgendeinem unterschwelligen Machtkampf einen Nachteil zu verschaffen, noch eine logische Erklärung für mein Unwohlsein geben zu müssen. Sie fragen öfter und ernsthafter nach, wie es mir geht, können (auch wirre) Gefühle besser nachempfinden oder einsortieren und hören besser zu. Sie sind halt keine cis Männer/Jungen in deren Gegenwart diese Themen traditionellerweise höchstens nebenbei und wenn überhaupt mit einer “Kopf-hoch” Mentalität abgetan werden, wie ich gelernt habe.
Es trifft bestimmt nicht auf jede meiner Männerfreundschaften zu, aber natürlich wurde auch ich davon geprägt, wie Beziehungen zwischen Männern in unserer Gesellschaft & den Medien ausgelebt und dargestellt werden – auch wenn ich es nicht gerne zugebe, weil ich mich vermeintlich davon distanzieren kann. Und gleichzeitig wird Jungen der Umgang mit Gefühlen und emotionaler Nähe – vor allem in männlichen Kontexten – nie wirklich beigebracht. 
Wenig verwunderlich also auch, dass ich auf der anderen Seite besser für Frauen da sein, ihnen zuhören und emotionale Nähe geben kann. Während ich von Frauen in meinem Umfeld Zuneigung und ggf. sogar (feministische) Anerkennung bekomme, wenn ich emotionale Unterstützung anbiete, ist es mit cis Männern oft ein holpriger Weg meine Gefühle Preis zu geben oder danach zu fragen und wirklich nahbar zu sein.

Ich denke, das liegt einerseits an Gewohnheit und meinem Bild von Männerfreundschaften. Und andererseits an einer männlichen Dynamik, in die auch ich regelmäßig und mit ‘modernen’ und reflektierten Männern zurückfalle: Konkurrenz & Wettbewerb. Dann geht es vielleicht nicht darum, wer beim Ringen gewinnt, sondern wer feministischer, ‘woker⁵’ oder sensibler ist. Wer kann besser kochen? Wer regt sich mehr über Sexismus auf? Wer hört Betroffenen besser zu? Wer kritisiert Pop-Kultur und die Gesellschaft treffender? Wer ist selbstkritischer? Wen mögen mehr feministische Freund*innen? Wer kommuniziert besser mit seiner*seinem Partner*in?

Das nervt. Es nervt mich, dass ich so denke. Und es nervt mich, dass sich diese Konkurrenz auch genau in solchen Momenten zeigt, in denen es um Gefühle und Unsicherheiten geht. Denn trotz – oder vielleicht auch wegen – aller Reflexion und feministischer Auseinandersetzung, sitze ich letztendlich einem Mann gegenüber, dem ich jetzt plötzlich unter Beweis stellen will, wie selbstkritisch ich bin, wie sehr ich mich reflektieren kann. Statt wirklich mal mein Gesicht zu verlieren, Überforderung und Schwäche einzugestehen oder darüber zu reden, wie ich an eigenen feministischen Ansprüchen scheitere, entfacht in mir ein kleiner neuer Konkurrenzkampf um eine “kritische Männlichkeit”: Schwäche zeigen, aber nur wenn es eine Stärke ist. 

❓Reflexionsfragen

Insbesondere für die cis Männer & Jungen: Verabrede dich doch mit einem guten Freund und lest den Text gemeinsam. Nehmt euch Zeit darüber zu sprechen:

  • Trifft der Text auch auf dich und deine cis Männerfreundschaften zu? Warum / Warum nicht?
  • Mit wem redest du lieber über Gefühle, Unsicherheiten, Schwächen und deinem Umgang mit deinen Männlichkeiten?
  • Hast du Angst, dass Freundschaften komisch werden könnten, wenn du so etwas unter cis Männern thematisieren willst?
  • Hast du Angst vor Zurückweisung oder davor dein Gesicht zu verlieren, wenn du mit Menschen über deine Schwächen redest? Hat es einen Einfluss, wenn dein Gegenüber cis männlich ist?
  • Hast du in deinen männlichen Freundschaften das Gefühl, du müsstest dich in irgendeiner Weise beweisen, um akzeptiert zu werden oder Anerkennung zu erlangen? z.B. durch Leistungsstärke, im Sport, bei (cis) Frauen gut ankommen, viel zu Trinken, besonders politisch oder feministisch zu sein…
  • Lädst du deinen emotionalen Ballast / deine emotionalen Bedürfnisse bei weiblichen Freund*innen bzw. FLINTA⁵* ab?

ℹ️ Begriffserklärungen

¹Cis-geschlechtlich/cisgeschlechtlich/cis-gender: Bei cis-geschlechtlichen Menschen entspricht die Geschlechtsidentität dem Geschlecht, das ihnen bei ihrer Geburt auf Grundlage der gesellschaftlichen Einordnung ihrer Genitalien zugewiesen wurde.

²Männlichkeitsanforderungen: Gesellschaftliche Bilder und Erwartungen davon was männlich ist und wie Jungen und Männer sich angeblich verhalten oder verhalten sollen: Was sie mögen, wie sie auftreten, was sie können, rundum: was typische für sie ist. Alle die als Jungen oder Männer anerkannt werden wollen, müssen sich mit diesen Anforderungen auseinandersetzen.

³internalisieren: Werte, Normen, Auffassungen o. Ä. übernehmen und sich zu eigen machen oder sie verinnerlichen. Zum Beispiel können Verhaltensmuster, Wertvorstellungen, gesellschaftliche Vorurteile und Diskrimminierung internalisiert werden.

⁴Homofeindlichkeit: Homofeindlichkeit bezeichnet die Diskriminierung von schwulen und lesbischen Menschen. Sie äußert sich z.B. durch Ablehnung, Wut, Intoleranz, Vorurteile,  Unbehagen oder körperliche bzw. psychische Gewalt gegenüber schwulen und lesbischen Menschen oder Menschen, die als schwul oder lesbisch wahrgenommen werden. Wir bevorzugen den Begriff “Homofeindlichkeit”, da “Homophobie” so klingt, als wäre es keine freie Entscheidung, homosexuelle Menschen zu diskriminieren. Eine Phobie hingegen ist eine Diagnose, gegen die vorzugehen sehr schwierig ist.

⁵FLINTA*: Frauen, Lesben, Inter Menschen, Nicht-binäre Menschen, Trans Menschen, Agender Menschen. Der * Stern weist auf die Konstruiertheit der Kategorien hin und schließt Personen ein, die sich selbst nicht in eine der genannten Kategorien einordnen oder (mit-) gemeint sind. Es ist ein Sammelbegriff für Menschen, die vom Patriarchat unterdrückt werden und/oder patriarchale Gewalt erleben.