Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Inhaltsanmerkung: sexistische & ableistische Beleidigung

Als ich 14 Jahre alt war, haben sich in meinem Umfeld Jungsgruppen gebildet. Uns haben zunächst die gemeinsamen Aktivitäten verbunden: Schule oder Vereinssport, dann aber bald auch Alkohol trinken, nachts um die Häuser ziehen, Konsole zocken, Joints oder Shisha rauchen.
Es begann die Zeit, in der aus allem ein Wettbewerb wurde: Wer konnte am meisten trinken? Wer war der Beste in Call of Duty oder Fußball? Wer hat mit den hübschesten Mädchen geschrieben? Wer hat den längsten Penis? Wer wird auf die Party eingeladen? Wer nicht? Das wurde natürlich so nicht immer explizit ausgesprochen, aber es war trotzdem da. Ich hatte oft das Gefühl, dass es in den Freundschaften gar nicht mehr darum ging, Spaß zu haben oder eine gute Zeit miteinander zu verbringen, sondern nur noch darum, wer eigentlich besser in irgendwas ist und wer den Ton angibt. 
Es entstand eine Umgangsweise, in der wir uns permanent verletzten, erniedrigten und wieder hochpushten. Dass “Witze” und Beleidigungen wie „Du trinkst wie ein Mädchen.“, „Bist du behindert?”, „Sie hat ein hässliches Gesicht, aber ficken würde ich sie trotzdem.“ oder permanente „Mütterwitze“ usw. vor allem Diskriminierung marginalisierter Gruppen reproduzierten, war mir nicht bewusst oder einfach egal. Es gehörte dazu, um sich zu behaupten, um anerkannt zu werden. Und diese männliche Anerkennung in meinem Umfeld hat mir Selbstbewusstsein gegeben. Mit der Gruppe im Rücken konnte ich einer von “den Starken” sein: öffentlich laut sein, vor Wut Dinge kaputt machen oder Mädchen/Frauen hinterherrufen.

In den 15 Jahren hat sich unsere Freundesgruppe kaum weiterentwickelt. Uns verbinden immer noch Videospiele, Drogen, Techno und Arbeit/Uni. Wenn man sich so lange kennt, fühlt man sich halt einfach wohl mit den Leuten. Und das auch trotz (oder  gerade wegen) der Gründe, die in vorherigen Texten ausgeführt wurden. Keiner meiner Freunde würde sich als homofeindlich, sexistisch oder rassistisch bezeichnen, aber es finden aber immer noch Abwertungen vom nicht cis¹ hetero Männlichen statt, vielleicht etwas subtiler als früher. Mir fällt das oft auf und ich störe mich auch daran, aber wirklich etwas zu ändern schaffe ich auch nicht.

Ich schätze, ich habe einfach Schiss davor, dass es unangenehm für mich wird oder dass ich am Ende sogar mein soziales Umfeld verliere. Und wahrscheinlich bin ich oft auch einfach zu bequem, denn die engsten Freunde kritisiert man nun mal nicht gerne. Dazu kommt, dass ich oft auch nicht ernst genommen werde, wenn ich irgendwas problematisiere. Ich darf mir dann höchstens Sticheleien anhören und für ein paar fiese Kommentare setze ich meine soziale Akzeptanz dann doch nicht aufs Spiel. Und ich schätze genau hier mache ich mich zum Teil des Problems.
Durchs Schweigen, Mitmachen und nach Anerkennung ringen, durchs Abtun von sexistischen Beleidigungen als harmlose Kommentare und dem Ignorieren meiner Verantwortung, dies anzusprechen, bin ich Teil des Problems.

Es gibt wahrscheinlich nicht die eine richtige Art, mit solchen Freundschaften als cis Mann umzugehen. Es liegt in der Verantwortung derjenigen, die im Patriarchat² Privilegien genießen, die unangenehmen Gespräche zu führen. Den besten Freund zu kritisieren, wenn er beleidigende Sprüche reißt, die unangenehmen Diskussionen auszuhalten, und damit zu nerven, dass es mal wieder Zeit wäre, über Sexismus zu reden oder gemeinsam zu überlegen, wie man Betroffene wirklich unterstützen kann. Oft bedeutet das, die eigene Komfortzone zu verlassen, runtergemacht zu werden, sich Sticheleien anzuhören und das Ansehen in der Gruppe zu gefährden. Es wird unangenehm werden, aber es ist nötig. Und am Ende kann es aber auch bedeuten, Freundschaften zu vertiefen und sich gemeinsam weiterzuentwickeln. Und vor allem kann es dazu beitragen, das Leben für FLINTA*³, die durch die sexistischen und problematischen Dynamiken in Männerfreundschaften diskriminiert werden, leichter zu machen.

❓Reflexionsfragen

Insbesondere an cis Jungen und cis Männer:

  • Kritisierst du deine Freunde für diskriminierendes Verhalten? Wenn nein, wieso?
  • Wie sehen deine Männerfreundschaften & Männergruppen aus? Was verbindet euch?
  • Hast du oft das Gefühl, mit deinen Freunden in Konkurrenz zu treten oder aus alltäglichen Dingen oft einen unausgesprochenen Wettbewerb zu machen?
  • Was kannst du tun, um deinen Freundeskreis für Sexismus und andere strukturelle Diskriminierungsformen zu sensibilisieren? Was tust du bereits?
  • Hast du schonmal über genannte Dynamiken in deinen Männerfreundschaften nachgedacht oder darüber mit jemandem gesprochen?

ℹ️ Begriffserklärungen

¹Cis-geschlechtlich/cisgeschlechtlich/cis-gender: Bei cis-geschlechtlichen Menschen entspricht die Geschlechtsidentität dem Geschlecht, das ihnen bei ihrer Geburt auf Grundlage der gesellschaftlichen Einordnung ihrer Genitalien zugewiesen wurde.

²FLINTA*: Frauen, Lesben, Inter Menschen, Nicht-binäre Menschen, Trans Menschen, Agender Menschen. Der * Stern weist auf die Konstruiertheit der Kategorien hin schließt Personen ein, die sich selbst nicht in eine der genannten Kategorien einordnen oder (mit-) gemeint sind. Es ist ein Sammelbegriff für Menschen, die vom Patriarchat unterdrückt werden und/oder patriarchale Gewalt erleben.

³Patriarchat: Gesellschaftsordnung, die dem Mann eine bevorzugte Stellung in Gesellschaft und Familie einräumt.