Männerfreundschaften und das Patriarchat

Mein bester Freund in der Schulzeit war wirklich eine liebe Person. Er hat mir zugehört, wir haben über unsere Gefühle sprechen können und er hat Verständnis gezeigt, wenn ich ihm erzählt habe, wie ich unter dem toxischen Verhalten anderer Männer gelitten habe. Okay, er war ein bisschen unbeholfen, aber er hat es zumindest versucht. Das allerdings auch nur, wenn seine Jungs nicht dabei waren. Denn dann war er wie ausgewechselt. Er hat auf einmal seine emotionale Seite versteckt, war mir gegenüber kalt und distanziert und hat über sexistische Witze gelacht.

Für mich machen ein aufrichtiges Interesse an den Gefühlen und Bedürfnisse des Gegenübers, Zuhören und füreinander da zu sein – kurzum: emotionale Care-Arbeit – eine wirklich enge Freundschaft aus. Ich mag es, andere Menschen mit ihren Verletzlichkeiten, Schwächen und ehrlichen Gefühlen kennen zu lernen und bin der Überzeugung, dass tiefe zwischenmenschliche Beziehungen nur so funktionieren können. Ich habe allerdings oft beobachtet, dass genau diese emotionalen Aspekte einer Freundschaft cis¹ Männern untereinander wirklich schwer fallen. Sätze wie „Ich kann irgendwie mit Frauen besser über meine Gefühle und Probleme reden“ habe ich schon oft von cis männlichen Freunden gehört. Warum ist das eigentlich so?
Mit der Industrialisierung² hat sich die Arbeit – sowohl von Frauen als auch von Männern – zunehmend in die Fabriken verlagert. Die Arbeitstage wurden länger und anstrengender, mit der Folge, dass reproduktive Tätigkeiten³, wie die Arbeit im Haushalt und die Kindererziehung, mehr und mehr auf der Strecke blieben. Da keine Gesellschaft ohne diese reproduktiven Tätigkeiten existieren kann, verlagerte sich der Aufgabenbereich der Frauen ab Mitte des 19. Jahrhunderts darauf, unbezahlte Arbeit im Haushalt und bei der Kindererziehung zu verrichten. Die klassische kapitalistische Aufgabenverteilung war geschaffen. Darüber hinaus war es auch an den Frauen, emotionale Care-Arbeit für die überarbeiteten Männer zu übernehmen, um dafür zu sorgen, dass sie am nächsten Tag wieder arbeitsfähig waren.
Jetzt, nicht einmal 100 Jahre später, hat sich diese Rollenverteilung natürlich nicht einfach so in Luft aufgelöst. Heute noch ist es Gang und Gäbe, dass Frauen sich emotional um Männer kümmern.

Ich habe es schon oft erlebt, dass meine cis männlichen Freunde ganz selbstverständlich mit mir über ihre Probleme reden und erwarten, dass ich mich derer voll und ganz annehme. Und das, ohne dass sie davor mal gefragt haben, wie es mir gehe und ob ich gerade emotionale und gedankliche Kapazität habe, sie zu unterstützen. Zwar bin ich gerne für meine (männlichen) Freund*innen da, aber es nervt mich, wenn meine Fürsorge und mein Zuhören als selbstverständlich angenommen werden.
Sicher liegt es auch an mir, Grenzen zu setzen und klar zu äußern, wenn ich mich gerade nicht danach fühle, eine*n Freund*in aufzubauen, weil ich gerade mit meinen Problemen beschäftigt bin, aber das ist irgendwie gar nicht so leicht. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass das Patriarchat⁴ uns Frauen beigebracht hat, unter allen Umständen immer für andere Menschen da zu sein, ihnen zuzuhören und Raum zu geben und dass wir erst dadurch Zuneigung von anderen Menschen verdienen. Auch in den Medien werden heterosexuelle romantische Beziehungen oft so dargestellt, dass die Frauen Liebe und Zuneigung von Männern erst dadurch erlangen, dass sie emotional für die Männer da sind.
Abgesehen davon ist es auch wahnsinnig anstrengend, wenn die emotionale Care-Arbeit nur einseitig übernommen wird. Das wird dann besonders deutlich, wenn ich in Freundschaften mit cis Männern meine Probleme anspreche und dann irgendwie ziemlich schnell das Thema gewechselt wird. Manchmal habe ich – besonders in feministischen Kreisen – das Gefühl, dass meine cis männlichen Freunde mir und meinen Problemen zwar gerne Raum geben würden, aber dann doch überfordert sind, wie das mit dem Für-jemanden-da-sein so ganz konkret aussieht.

Um der patriarchalen Rollenverteilung der Care-Arbeit entgegenzuwirken und um tiefere zwischenmenschliche Beziehungen mit und unter cis Männern führen zu können, denke ich, dass cis Männer lernen sollten, sich untereinander den emotionalen Support zu geben, den sie sonst vor allem bei FLINTA*⁵ einfordern. Ebenso ist es für FLINTA* wichtig, eigene Grenzen zu setzen und in Freundschaften und Beziehungen mit cis Männern Raum für sich und die eigenen Probleme einzufordern. Es ist wichtig, Nein zu sagen und zu verstehen, dass wir liebenswert sind, auch wenn wir nicht in jeder Situation unsere eigenen Grenzen für das Wohl eines Freundes missachten.

Anstatt Räume für Gefühle, Verletzlichkeiten und aufrichtige Gespräche zu bieten, bietet die klassische Männerfreundschaft oft einen Raum für stereotype Männlichkeit. Wer sonst einfühlsam ist, ist mit den Jungs auf einmal doch ganz anders. Dominanz und Konkurrenz werden hier nicht bloß ausgelebt, sie werden zelebriert und oft zur Voraussetzung für die Freundschaft gemacht. Darüber hinaus wird Männlichkeit häufig auch über Misogynie⁶, Transfeindlichkeit⁷ und Homofeindlichkeit⁸ definiert. Das wird zum Beispiel dann deutlich, wenn stereotypisch weibliche Eigenschaften abgewertet und als Schwäche betrachtet werden, um damit Männlichkeit aufzuwerten. Wer keine “männliche” Glanzleistung vollbringt, wird “Pussy” genannt, wer sich “unmännlich” verhält, wird als “schwul” bezeichnet und männlich ist nur, wer einen Penis hat.
Sowohl das Ausleben von Männlichkeit als auch die damit verbundene Abwertung von allem, was nicht der cis männlichen heterosexuellen Norm entspricht, wird natürlich zurecht von vielen FLINTA* kritisiert. Ich denke, nicht zuletzt daher kommt der Wunsch vieler Männer nach dem „entspannten Abend nur mit den Jungs“. Sie wollen der Kritik des Auslebens ihrer Männlichkeit entgehen und das Problem nicht in ihrer Männlichkeit sehen.
Sich dann in rein cis männliche (und oft auch rein heterosexuelle) Räume zurückzuziehen ist natürlich sehr problematisch. Es führt zum einen dazu, dass toxische männliche Eigenschaften ungestört weiter gestärkt werden können und zum anderen dazu, dass sexistische, misogyne, transfeindliche und homofeindliche Denkweisen etabliert und gefestigt werden.
Um dem entgegenzuwirken ist es aus feministischer Perspektive unverzichtbar, dass sich Männer gegenseitig auf problematisches Verhalten aufmerksam machen, auch dann, wenn nur heterosexuelle cis Männer anwesend sind. Mehr noch; Männerfreundschaften sollten auch darüber hinaus als Räume genutzt werden, um über Sexismus zu reden und eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Es ist wichtig, über Schuld und Täterschaft zu sprechen und den Gefühlen, die dabei aufkommen, Raum zu geben und sie ernst zu nehmen. Und besonders wichtig ist es, den Raum dafür nicht bei FLINTA* einzufordern.

❓Reflexionsfragen

Insbesondere an cis Jungen/Männer:

  • Mit wem redest du über deine Probleme, Gefühle und Sorgen?
  • Gibt es in deinen Freund*innenschaften zu FLINTA* ein Ungleichgewicht darin, um wessen Probleme es häufiger geht?
  • Fühlst du dich manchmal überfordert, wenn es einer nahestehenden Person schlecht geht und du für sie da sein willst?
  • Hast du manchmal das Bedürfnis nach einem Abend mit den Jungs? Wenn ja, wieso & was ändert es, wenn FLINTA* dabei sind?
  • Machst du deine Freunde auf problematischen Verhalten aufmerksam?
  • Hast du schon einmal mit ihnen über Schuld und sexistisches Verhalten gesprochen?

ℹ️ Begriffserklärungen

¹Cis-geschlechtlich/cisgeschlechtlich/cis-gender: Bei cis-geschlechtlichen Menschen entspricht die Geschlechtsidentität dem Geschlecht, das ihnen bei ihrer Geburt auf Grundlage der gesellschaftlichen Einordnung ihrer Genitalien zugewiesen wurde.

²Industrialisierung/Industrielle Revolution: Der Begriff beschreibt den historischen Wandel, bei dem die Handarbeit zunehmend durch Maschinenarbeit abgelöst wurde. Dabei verlagerte sich der Arbeitsschwerpunkt vieler Menschen vom Agrarbereich – bzw der Landwirtschaft – zunehmend in Fabriken. Begonnen hat die industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien.

³Reproduktive Tätigkeiten: Reproduktive Tätigkeiten dienen der grundlegenden Aufrechterhaltung sozialer und ökonomischer Verhältnisse. Darunter fallen insbesondere die Kinderbetreuung, -versorgung und -erziehung sowie Haus- und Familienarbeit, aber auch Beziehungsarbeit und Hilfe unter Freund*innen. Obwohl Reproduktionsarbeit unverzichtbar für eine funktionierende Wirtschaft und Gesellschaft ist, bleibt diese meistens unbezahlt, erlangt ökonomisch und gesellschaftlich kaum Anerkennung.

⁴Patriarchat: Gesellschaftsordnung, die dem Mann eine bevorzugte Stellung in Gesellschaft und Familie einräumt.

⁵FLINTA*: Frauen, Lesben, Inter Menschen, Trans Menschen, Nicht-binäre Menschen, Agender Menschen. Der * Stern weist auf die Konstruiertheit der Kategorien hin schließt Personen ein, die sich selbst nicht in eine der genannten Kategorien einordnen oder (mit-) gemeint sind. Es ist ein Sammelbegriff für Menschen, die vom Patriarchat unterdrückt werden und/oder patriarchale Gewalt erleben.

⁶Misogynie: Misogynie ist die Bezeichnung für Frauenfeindlichkeit (vor allem von Männern ausgehend) und für Hass auf Weiblichkeit bzw. Femininität. Das drückt sich z.B. dadurch aus, dass Frauen als weniger beruflich professionell gesehen werden oder dass Dinge, die mit Mädchen und Frauen in Verbindung stehen, als peinlich oder schlecht angesehen werden – z.B. Pumpkin Spiced Latte, Menstruation, die Farbe Pink, romantische Filme und Bücher, Emotionen, usw.

⁷Transfeindlichkeit: Transfeindlichkeit bezeichnet die Diskriminierung von trans Menschen. Dies äußert sich z.B. durch Ablehnung, Wut, Intoleranz, Vorurteile, Unbehagen oder körperliche bzw. psychische Gewalt gegenüber trans Personen oder Menschen, die als trans wahrgenommen werden.

⁸Homofeindlichkeit: Homofeindlichkeit bezeichnet die Diskriminierung von schwulen und lesbischen Menschen. Sie äußert sich z.B. durch Ablehnung, Wut, Intoleranz, Vorurteile, Unbehagen oder körperliche bzw. psychische Gewalt gegenüber schwulen und lesbischen Menschen oder Menschen, die als schwul oder lesbisch wahrgenommen werden. Wir bevorzugen den Begriff “Homofeindlichkeit”, da “Homophobie” so klingt, als wäre es keine freie Entscheidung, homosexuelle Menschen zu diskriminieren. Eine Phobie hingegen ist eine Diagnose, gegen die vorzugehen sehr schwierig ist.

➡️ Empfehlungen/Quellen

Silvia Federici: Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution.