Gemeinsame Verantwortung

Inhaltsanmerkung: Erwähnung von sexualisierter Gewalt

Konsens fängt vielleicht mit simplen Fragen, die uns manchmal aber doch so schwer fallen, an, aber es bedeutet für mich viel mehr. Fragen nach meinen Wünschen und was ich möchte haben mir erst gezeigt, dass meine Bedürfnisse wichtig sind; erstmal für die andere Person, aber letzten Endes natürlich für mich. Ich wünschte, ich hätte das für mich schon viel früher gewusst, aber das war nunmal nicht so.

Ich weiß nicht, was genau mir vor allem in meinen Jugendjahren beigebracht hat, dass meine sexuellen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen nicht wichtig sind. Ich weiß nicht, ob es die fehlende Aufklärung von Seiten meiner Eltern, aber auch von der Schule war. Oder die sexuellen Übergriffe, die ich erleben musste. Oder meine Freundinnen und die Jungs aus der Klasse, die mich ständig geslutshamt¹ haben, wenn ich irgendwen auf einer Party geküsst habe. Oder die Bilder, die mir von Sexualität in den Medien präsentiert werden. Oder die einfache Tatsache, dass ich als Mädchen in einer patriarchalen² Gesellschaft aufgewachsen bin, in der unter anderem Frauen systematisch das Recht auf selbstbestimmte Sexualität aberkannt wird. Wahrscheinlich war es am Ende alles zusammen. All die kleinen und großen Dinge, die mir immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise gesagt haben, dass meine Sexualität nicht mir gehört. Ich hatte das so sehr verinnerlicht, dass ich das nicht einmal selbst gemerkt habe.

Ich hatte eigentlich auch nie wirklich Lust auf Sex. Wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich meine ersten sexuellen Erfahrungen neben Küssen wahrscheinlich nur gemacht, um endlich bei den Sex-Fragen bei „Ich hab noch nie“³ mittrinken zu können. Bei diesen ersten Erfahrungen haben wir auch nie über irgendwas geredet. Einvernehmlichkeit wurde angenommen oder war egal.
Als ich zum ersten mal gefragt wurde, ob ich Sex haben möchte, war das wirklich ungewohnt für mich. Wenn man sich diese Frage nie ernsthaft selber gestellt hat, dann ist das natürlich zu erwarten. Aber es hat sich auch gleich richtig gut angefühlt. Ich wollte in dem Moment nicht, konnte einfach Nein sagen und das war okay.
Mit den Fragen, was mir gefällt, was ich möchte und was nicht, habe ich angefangen zu verstehen, dass auch ich sexuelle Bedürfnisse habe und haben darf, und dass das irgendwie auch ziemlich schön sein kann. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Lust auf Sex und jedes Ja, hat sich soviel besser angefühlt, als meine Neins auch endlich gehört wurden.

All die Fragen haben mir aber nicht nur meine Lust auf Sex wiedergegeben. Sie haben mich auch dazu gebracht, mich damit auseinanderzusetzen, was ich eigentlich mag im Bett. Das herauszufinden war und ist definitiv kein einfacher Prozess. Es erfordert viel Geduld. Man kann sich nicht mal eben hinsetzen, ein bisschen nachdenken, was man möchte und das dann kommunizieren. Ich habe mich mit meinen Verletzungen und vergangenen Grenzüberschreitungen auseinandergesetzt, habe nachgefühlt, was das mit mir gemacht hat und frage mich immer wieder, was ich eigentlich wirklich möchte. Oft bin ich dann einfach frustriert, weil ich es nicht weiß und zweifel wieder an mir.

Mittlerweile kommen neben der alten, tiefen Überzeugung, dass es einfach egal ist, was ich möchte, auch neue „feministische“ Ansprüche an mich dazu. Ich habe oft das Gefühl, unbedingt ganz genau wissen zu müssen, was ich möchte und was nicht. Und wenn ich es dann mal nicht weiß, fühle ich mich schwach und unfeministisch. Ich weiß, dass das total bescheuert ist. Ich weiß, dass es okay ist, nicht immer alles zu wissen und dass ich das nach all den Verletzungen auch nicht erwarten kann. Ich weiß, dass mein feministischer Anspruch sein sollte, geduldig und mitfühlend mit mir selbst zu sein.

Konsens hat für mich vor allem mit den Fragen nach Zustimmung für sexuelle Handlungen und Fragen danach, was ich mag, angefangen. Mittlerweile ist es ein ständiger Lernprozess, von dem ich gar nicht weiß, ob er jemals abgeschlossen sein wird. Wenn wir Sex haben wollen, auf den alle Beteiligten so richtig Lust haben und bei dem wir uns auf Augenhöhe begegnen, dann braucht es viel mehr als Fragen und Zustimmung. Dann heißt Konsens auch, gemeinsam (Macht-)Dynamiken in zwischenmenschlichen  Beziehungen und patriarchale Rollen³ zu hinterfragen, radikal ehrlich zu sich selbst zu sein und sich immer wieder gemeinsam mit sich selbst und dem Gegenüber auseinanderzusetzen.
Und dabei bedeutet es auch immer gemeinsame Verantwortung. Für mich heißt das vor allem, das Gefühl zu haben, nicht alleine mit der Aufgabe dazustehen, meine Grenzen zu kommunizieren und mir meiner Bedürfnisse bewusst zu werden. Immerhin wurde mir sehr lange klar gemacht, dass ich gar keine haben darf. Ich will von meinen Unsicherheiten und Verletzungen erzählen und dann gemeinsam nach Wegen suchen, damit umzugehen. Und das gilt natürlich auch andersrum.

Natürlich wünschte ich, ich hätte all diese Dinge über mich auch alleine gelernt. Ich wünschte, ich wäre in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es selbstverständlich ist, über die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu lernen und in der sexualisierte Gewalt⁴ nicht immer noch Alltag für so viele von uns ist. Aber das ist nunmal nicht so. Und ich will nicht erst warten, bis das Patriarchat abgeschafft ist, um Sex zu haben.

❓Reflexionsfragen

  • Hast du in sexuellen Kontexten Schwierigkeiten zu wissen, was du willst?
  • Was wurde dir als Kind über deine Sexualität beigebracht? Glaubst du, das dich das bis heute prägt?
  • Welche Einstellung zu Sexualität wurde dir in deiner Jugend vermittelt?
  • Was wurde dir in deiner Jugend über deine Grenzen, Bedürfnisse, Gefühle beigebracht und wie wurde dir vermittelt, sie zu kommunizieren?
  • Ist dir in intimen Momenten immer klar, was du willst? Fällt es dir schwer, das dann auch zu kommunizieren?
  • Falls du manchmal nicht genau weißt, was du in sexuellen Kontexten möchtest, wie gehst du damit um? Wie geht dein*e Partner*in damit um? Wie willst du, dass damit umgegangen wird?
  • Fühlst du dich manchmal (in intimen Situationen) jemandem gegenüber dazu verpflichtet, genau zu wissen, was du willst?
  • Geht es dir beim Konsens einfach darum, dich abzusichern, nichts falsch zu machen? Denkst du, dass auch ein Ja manchmal nicht heißen muss, dass die Person wirklich Lust hat? Wie würdest du damit umgehen?
  • Glaubst du, Konsens kann zusätzlich zum Fragen und Zustimmen auch bedeuten, zusammen über Unsicherheiten, angelerntes Übergehen der eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen?
  • Hast du als du Sex hattest schon darüber nachgedacht, ob es der anderen Person vielleicht schwer fallen könnte, Grenzen und Bedürfnisse genau zu kommunizieren? Wie bist du damit umgegangen?

ℹ️ Begriffserklärungen

¹Slutshaming: Slutshaming ist eine Praxis der Abwertung aufgrund der Sexualität, die meistens Frauen und Mädchen trifft. Dabei wird zum Beispiel abgewertet und als “Schlampe” abgestempelt, wer mit wechselnden Parter*innen Sex hat und Sexualität offen auslebt. 

²Patriarchat: Gesellschaftsordnung, die dem Mann eine bevorzugte Stellung in Gesellschaft und Familie einräumt.

³Ich hab noch nie: “ich hab noch nie” ist ein Trinkspiel, bei dem eine Person eine Aussage trifft, über eine Sache, die sie noch nie gemacht hat. Alle, die diese Sache schonmal gemacht haben, müssen trinken.

sexualisierte Gewalt: Siehe Einleitung im Juli 2022