Konsens – und damit meine ich nicht nur die Frage nach der Zustimmung, sondern die gesamte Kommunikation über die Kommunikation von Bedürfnissen und Grenzen – macht meine Beziehungen zu anderen Menschen liebevoller und tiefer.
Dabei reden wir auch über unsere Geschlechterrollen, Heteronormativität¹ und sexualisierte Gewalt². Manchmal habe ich dann die Illusion, all diese strukturellen Probleme in meinen individuellen Beziehungen zu Menschen überwinden zu können, wenn ich nur genug darüber spreche. Und weil ich glaube, dass es eben nur eine Illusion ist, finde ich es wichtig, sich auch mit den Grenzen von dem Konsensprinzip zu befassen.
Rona Torenz hat in ihrem Buch “Ja heißt Ja?” einige Problematiken des Konsensprinzips erläutert:
Der Fokus auf eine klare und unmissverständliche Kommunikation soll gegen das Täter*innennarrativ³ wirken, dass man von der Ablehnung der betroffenen Person nichts mitbekommen hätte. Damit impliziert die Forderung nach klarer Kommunikation aber, dass Missverständnisse die Ursache sexualisierter Gewalt sind. So wird zum einen genau dieses Narrativ gestärkt und zum anderen der Fokus verschoben – weg von Geschlechterverhältnissen hin zu Missverständnissen als Ursache(n) für sexualisierte Gewalt.
Damit möchte ich nicht sagen, dass Kommunikation nicht präventiv wirken kann, sondern nur, dass Konsens nicht jeglichen Akt sexualisierter Gewalt verhindert. Denn es gibt Menschen, die die Grenzen anderer willentlich überschreiten. Kommunikation kann nur dann präventiv wirken, wenn alle beteiligten Personen Grenzüberschreitungen, die unbeabsichtigt geschehen, vermeiden möchten.
Dabei finde ich es jedoch wichtig zu betonen, dass es hierbei gerade nicht darum gehen sollte, sich durch oberflächlichen Konsens aus der Verantwortung zu ziehen.
Wenn Menschen miteinander wirklich einvernehmlichen Sex haben möchten, sollte es vielmehr darum gehen, die Verantwortung zu teilen. Das heißt auch, darüber zu sprechen, wie man zusammen mit Grenzüberschreitungen umgehen möchte. Dazu sollte in erster Linie natürlich gehören, gemeinsam zu schauen, was die Person, deren Grenzen verletzt wurden, braucht. Es kann aber auch darum gehen, Situationen im Hinblick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zu analysieren und über den Umgang mit Schuld zu sprechen.
Ein weiterer zentraler Kommunikationsvorschlag im Konsensprinzip ist die Voraussetzungsfreiheit. Damit ist gemeint, dass man vor jeder Handlung nach Konsens fragt, um so die sexuellen Skripte, die wir internalisiert haben, aufzubrechen. Mit diesen Skripten ist der Ablauf gemeint, den wir bei sexuellen Begegnungen erwarten – erst wird geflirtet, “unschuldige” Berührungen ausgetauscht, geküsst, dann gefummelt und zum Schluss (penetrativer) Sex gehabt. Sie setzen meis das Vorhandensein eines aktiven und passiven Parts voraus und in den vorherrschenden heteronormativen Vorstellungen von Sex wird ersterer männlich assoziiert und letzterer weiblich.
Um diese Erwartungen an sexuelle Begegnungen aufzubrechen, sollte nach dem Prinzip der Voraussetzungsfreiheit vor jedem Schritt gefragt werden. Das soll der Hierarchisierung von körperlicher Nähe entgegenwirken – also der Einstufung bestimmter Berührungen oder Handlungen in weniger intim bis sehr intim. Eine Berührung an den Brüsten oder Genitalien wird beispielsweise als intimer als ein Kuss angesehen. Daraus folgt die Annahme, dass wenn der “intimeren” Handlung zugestimmt wird, alle weniger intimen Handlungen auch “in Ordnung” sind. Aber es kann ja auch sein, dass ich es gern mag, dass du mir beim Kuscheln die Brüste streichelst und sie küsst, aber ich nicht mit dir rummachen möchte.
Die Idee, heteronormative Vorstellungen von Sex so aufbrechen zu können, berücksichtigt allerdings nicht, dass wir diese Rollenbilder und Erwartungen verinnerlicht haben. Dadurch kann es schwerfallen oder in manchen Situationen beängstigend sein, “Nein” zu sagen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn jemand einen auf ein paar Drinks einlädt und man sich dann verpflichtet fühlt, mit dieser Person Sex zu haben. Beängstigend können neben der möglicher körperlicher oder psychischer Gewalt auch soziale Konsequenzen sein, wie zu fürchten, von dem*der Partner*in verlassen zu werden.
Ein weiterer Punkt, der die Heteronormativität im Konsensprinzip bestärkt, ist, dass eine Person vor einer Handlung nach Konsens fragt und die andere ablehnt oder zustimmt. Dadurch wird indirekt wieder das Bild von einem aktiven und potentiell übergriffigen männlichen Part und einem passiven weiblichen Part gestärkt. Bei dem Versuch, Konsens als rationale Aushandlung sehen zu wollen, verschleiert man Herrschaftsgefälle, indem Gleichheit vermittelt wird.
Konsens ist also keine Individuallösung, die frei von bestehenden Machtverhältnissen ist, sondern diese sogar bestärken kann. Für mich ist es aber ein Konzept, das es erträglicher macht, dass ich das Patriarchat wohl nie ganz aus meinem Bett verbannen können werde.
Um die Umsetzung aber möglichst wenig hierarchisch zu gestalten, ist mir zum einen wichtig, explizit zu erwähnen, dass Konsens auch für Männer gedacht ist. Gerade in heterosexuellen Kontexten habe ich das Gefühl, dass Männer Konsens aus “Rücksichtnahme” und Verantwortung gegenüber dem*der Partner*in praktizieren. Und in dieser Absicht spiegeln sich die Rollenerwartungen wider. Ob in heterosexuellen oder queeren Kontexten – Männer müssen nicht immer alles wollen, alle Entscheidungen treffen, der “aktive Part” sein oder immer wissen, worauf sie Lust haben. Konsens ist für alle da.
Zum anderen möchte ich dazu ermuntern, Konsens mehr als einen gemeinschaftlichen Prozess zu verstehen und nicht nur als Frage-Antwort-Modell. Konsens kann sein, über Bedürfnisse zu sprechen und darüber, nicht zu wissen, was man mag. Darüber, Pläne zu schmieden, was man zusammen ausprobieren möchte. Und über Grenzen und wie man damit umgeht, wenn Grenzen überschritten werden. Und darüber, wie und wann man beim Sex kommunizieren möchte – ob verbal oder non-verbal, ob vor jeder Handlung oder nur am Anfang. All das gemeinschaftliche Aushandeln und füreinander Verantwortung übernehmen kann Konsens sein.
Dieser Text basiert auf und fasst einige der Erkenntnisse aus den Büchern “Ja heißt Ja?” von Rona Torenz und “Vergewaltigung” von Mithu Sanyal zusammen. Wir möchten euch diese Bücher für eine tiefere Auseinandersetzung empfehlen.
ℹ️ Begriffserklärungen
¹sexualisierte Gewalt – siehe Juli
²Heteronormativität : Kultur und gesellschaftliche Struktur, die davon ausgeht, es sei ‚normal‘ und wünschenswert, sich gemäß biologisch definierter körperlicher Merkmale zweifelsfrei einem der zwei normalisierten Geschlechter (männlich oder weiblich) zuzuordnen und das jeweils andere dieser beiden Geschlechter zu begehren, mit ihm Liebesbeziehungen und Sexualität zu leben, langfristig Kinder zu zeugen und in einer Familie zusammenzuleben und dabei auch auf der Verhaltens- und Arbeitsteilungsebene, in Bezug auf Intimität und Sexualität etc. Geschlechternormen zu erfüllen. Diese Normativität wird damit begründet, der Sinn von Geschlecht und Sexualität sei die biologische Fortpflanzung (alternativ: gottgewollt). Allen, die nicht in diese Schablonen passen, widerfährt in einer heteronormativen Gesellschaft Diskriminierung.
³Täter*innennarrativ – Erzählungen über eine Situation aus Perspektive des*der Täter*in, mit der Intention, die Grenzverletzung zu verharmlosen, zu rechtfertigen und/oder die vom Übergriff betroffene Person als unglaubwürdig darzustellen