15. Türchen – Male Fragility

Das heutige Türchen befasst sich mit dem Konzept der männlichen Zerbrechlichkeit. Dieses Konzept ist noch jung und wird in verschiedenen Quellen sehr verschieden definiert.
Es handelt sich dabei um Abwehrreaktionen, die auftreten, wenn feministische Kritik geäußert oder sexistische Verhältnisse in Frage gestellt werden. Sie sind angelehnt an die Reaktionen, die Tupoka Ogette im Bezug auf Rassismus formuliert hat, wenn weiße Menschen mit ihrem rassistischen Verhalten konfrontiert werden.

Die männliche Zerbrechlichkeit ist sozusagen der Türsteher des Patriarchats. Sie stellt sicher, dass alle Versuche, sich gegen die sexistischen Machtverhältnisse zu wehren, erfolglos sein werden. Das fragile Selbstbild “Ich bin nicht sexistisch” oder die Überzeugung “Das Patriarchat ist jetzt auch nicht für alles verantwortlich” wird mit einem ganzen Werkzeugkasten an Methoden verteidigt. Das passiert in genervten Nebensätzen, aber in vielen Fällen auch mit körperlicher, psychischer oder emotionaler Gewalt (siehe hierzu einige der Erfahrungsberichte aus den früheren Türchen)
Im Folgenden gehen wir auf einige der typischen Abwehrmechanismen ein. Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig.

  1. Tone Policing oder „die Tonpolizei“: Viele cis Männer erwarten – bewusst oder unbewusst – alleine wegen ihres “Mannseins” ein bestimmtes Verhalten ihnen gegenüber. Daher reagieren sie auf Widerstand, Empörung oder Kritik häufig mit Sätzen wie “Ich würde ja mit dir reden, aber nicht wenn du so emotional/wütend bist.” oder “Du hast dich im Ton vergriffen“. Dadurch wird die berechtigte Empörung von Betroffenen Personen oder Allys(1) als Grund angeführt, warum das Verhalten nicht ändern oder hinterfragen muss. Dies geschieht übrigens nicht nur in der direkten Konfrontation mit Betroffenen, sondern auch oft in Gesprächen mit unbeteiligten Menschen. Bsp.: „Hast du gehört, wie Person xyz sich schon wieder aufgeregt hat?“
    Hier wäre es besser zu hinterfragen, welche Situation oder welches Verhalten die betroffene Person wütend gemacht hat und zu überlegen, wie du sie vielleicht unterstützen könntest.
  2. Täter-Opfer-Umkehr: Nach Kritik an sexistischem Verhalten oder einer verletzenden Situation wird versucht, sich selbst als das wahre Opfer darzustellen. Die Betroffenen stellen sie hingegen als Aggressor*innen dar, die mit ihren bösen Anschuldigungen den eigenen Ruf angreifen. Dies ist besonders gemein, weil die Betroffenen nun nicht nur mit der erfahrenen Abwertung oder Verletzung umgehen müssen. Sie müssen sich in diesem aufgewühlten Zustand auch noch gegen ihn verteidigen. Bsp.: „Jetzt stehe ich als das Arschloch da” oder etwas subtiler: “Jetzt darf ich ja gar nichts mehr sagen/machen“. Hier wird so getan, als würde die Verletzung des Gegenübers die eigene Freiheit und Selbstbestimmtheit einschränken.
  3. Derailing oder „Entgleisen“ beschreibt eine Methode in der ein völlig überzogenes „Gegenargument“ vorgebracht wird, um dadurch das Gespräch vom eigentlichen Thema – der Kritik an der toxischen Männlichkeit – abzulenken. “Aber diese Feministinnen, die alle Männer hassen, findest du doch auch nicht gut, oder?”
  4. Whataboutism oder „Ja, aber…“  ist dem Derailing sehr ähnlich. Auch hier wird versucht, vom Thema abzulenken. Allerdings werden hier beliebig andere Probleme, die nichts mit dem ursprünglichen Gesprächsthema zu tun haben, als Grund zum Themenwechsel angeführt. Für diese Probleme sollte es auch einen Ort und eine Zeit geben, um sie zu besprechen und zu versuchen, Lösungen zu finden. Wenn das Problem aber nur angesprochen wird, um die Kritik an sexistischem Verhalten zu verhindern und/oder die Angreifenden wieder in den Mittelpunkt zu rücken (s. 2.), dann ist das Whataboutism. Bsp.: “Aber es gibt auch Männer, die es sehr schwer haben.”, “Werden nicht auch Männer diskriminiert?” – Ja, aber darum geht es gerade nicht!
  5. Gaslighting oder „Realitätsentzug“wird von manchen Expert*innen(2) als eine Form von psychischer Gewalt und extremer Manipulation bezeichnet, weil sie zum Ziel hat, dass die betroffene Person anfängt, an ihrer eigenen Realität und Wahrnehmung zu zweifeln. Hierbei behauptet der Täter einfach, dass Dinge nicht so sind, wie sie sind. Bsp.: “Das hab ich so nicht gesagt, das hast du jetzt so interpretiert.”, “Du übertreibst.”, “Du bist so empfindlich.”, “Du siehst das Patriarchat auch überall.”
    Die Grausamkeit besteht hierbei darin, dass die Aussagen oder Handlungen nie aufhören zu verletzen, aber die betroffene Person irgendwann (vor allem wenn dies systematisch über lange Zeit geschieht) wirklich denkt, dass sie „einfach zu empfindlich“ ist. Oder schlimmer noch, dass sie es verdient, so verletzend behandelt zu werden.

In vielen Situationen, in denen typische Abwehrmechanismen auftreten, wird die betroffene Person in Debatten mit ihrem Gegenüber verstrickt, in denen sie sich rechtfertigen und erklären muss. Diese Debatten können viel Kraft kosten. Es gilt diese Abwehrreaktionen aber nicht nur zu reflektieren, wenn ihr selbst kritisiert werdet und euch anfangt zu verteidigen, sondern insbesondere auch, wenn Betroffene von solchen Situationen erzählen. Denn gerade wenn Betroffenen im Nachhinein und ggf. im vertrauten Umfeld nicht zugehört wird, sie nicht ernst genommen werden, der Angreifer in Schutz genommen wird, ihnen die Diskriminierungserfahrung abgesprochen wird oder “beide Seiten verstanden werden wollen”, kann das zu nachhaltigen Verletzungen führen. Manchmal kann das sogar noch verletzender sein, als die eigentliche Situation. 

An alle hier: Seid ihr cis, weiß, hetero und/oder nicht-behindert? Habt auch ihr diese oder ähnliche Abwehrstrategien zum Erhalt eurer Privilegien erlernt und setzt sie gegen Betroffene ein? Dann gilt alles was hier beschrieben wurde, in den Bereichen, in denen ihr privilegiert seid, also nicht von dieser bestimmten Diskriminierung betroffen, auch für euch!

An alle, die gleichzeitig von vielen verschiedenen Diskriminierung betroffen sind: Fühlt euch gesehen, fühlt euch umarmt (falls ihr das möchtet), fühlt euch validiert und fühlt euch bestärkt. Wir wissen, dass es so schwer ist, einen Ort/Raum zu finden in dem ihr nicht immer vor Diskriminierung und Mikroaggressionen auf der Hut sein müsst. In dem ihr einfach Mensch sein dürft. Es ist unglaublich schmerzhaft und kräftezehrend, wenn ihr in den vielen Kämpfen, die ihr führt, so oft nicht mitgedacht oder ignoriert werdet.

Cis Frauen vergessen nicht-binäre, intersex- und trans Menschen und Lesben. Weiße Menschen vergessen BIPoCs. BIPoC cis Männer vergessen die BIPoC Menschen, die keine cis Männer sind. Menschen ohne Behinderung vergessen die mit oder noch schlimmer: behaupten, sie hätten gar keine Behinderung, weil sie sie „nicht sehen“ können. Hetero-monogame Menschen vergessen queere Menschen.
Deshalb an alle hier: Seid aufmerksam, sensibel und wachsam für (auch unterschwellige) Ungleichbehandlung, Diskriminierung und Unterdrückung. Hört Menschen zu, die davon erzählen und schafft eine Umgebung, in der sie sich sicherer fühlen können.

❓Reflexionsfragen

  • Erkennst du dich wieder in den genannten Abwehrmechanismen? Welche dieser Abwehrmechanismen hast du selbst schon angewendet?
  • Denke an eine Situation, in der du selbst mit Zerbrechlichkeit auf Kritik reagiert hast. Was hat dich daran gehindert, die Kritik der Person anzunehmen? Warum hattest du das Gefühl, dich verteidigen zu müssen?
  • Kannst du dir vorstellen, jetzt zu einer Person zu gehen, die schonmal unter deiner (männlichen) Zerbrechlichkeit leiden musste, und dich dafür zu entschuldigen?

ℹ️ Begriffserklärung/Quelle

(1) Ally: Der Begriff Ally kommt aus dem Englischen und bedeutet direkt übersetzt so viel wie „Verbündete*r“. Damit sind Menschen gemeint, die ihre Privilegien nutzen, um Minderheiten zu unterstützen. Sie verbünden sich also mit einer diskriminierten Gruppe, obwohl sie selbst kein Teil davon sind. Bekannt ist der Begriff vor allem in der LGBTQA+ Szene und durch die #blacklivesmatter-Bewegung. Ein Ally der LGBTQA+-Community nutzt zum Beispiel seine vorteilhaftere Position als hetero- und cisnormatives Individuum, um anderen Geschlechtsidentitäten zu helfen, in der Gesellschaft anerkannt zu werden. Quelle

(2) Gaslighting: Quelle