16. Door – Orgasm Gap

[Englisch version: Orgasm gap]

Anmerkung: In dem folgenden Beitrag geht es um Sex

„dear sexpartner,

ich hab mit dir sex, es ist auch ganz nett. bis du kommst.
„fast“ sage ich. „fast wär ich gekommen.“ und alles was ich bekomme ist einen mitleidigen blick. kein „möchtest du auch? kann ich dich fingern, lecken, sonst irgendwas tun?“. nein, du schaust mich nur bedauernd an.
und dann passiert ganz viel.
wut auf dich, aufs patriarchat.
hoffnung, dass du doch noch fragst.
trotz, denn ich will zu dir sagen „kann ich mal den satisfyer haben?“.
noch mehr wut, doch dieses mal auf mich, denn ich kann es einfach nicht. ich kann nichts sagen, kann dich nicht fragen, stelle meine bedürfnisse mal wieder zurück.
und während du selig schläfst, der orgasmus hat dich in den schlaf gewogen, waren es für mich stunden die sich zogen.
was habe ich in all der zeit gemacht? habe nachgedacht. nein, gegrübelt.
gegrübelt über all das übel, all die menschen, die nicht kommen.
„woran liegt das bloß?“ hab ich mich gefragt. und obwohl ich weiß, es gibt ein gesamtgesellschaftliches problem, konnte ich das in dem moment schlicht nicht sehen. es kamen erst die zweifel.
zweifel an mir. zweifel an meinen bedürfnissen und fähigkeiten. und zweifel sogar an meinem wert.
und das sind die schlimmsten. frage mich, ob ich zu viel will oder ob dich das nicht erfüllt. kann nicht aufhören, mir die schuld zu geben. war ja vielleicht nicht gut genug, um dich so zu befriedigen, dass du das bedürfnis danach hast, etwas zurückzugeben.
und dann erinner ich mich an den patriarchalen spuk. dass es nicht meine schuld ist. man hat es mich gelehrt wegzustecken, um den mann zu beglücken, leise zu sein und immer nett, auf keinen fall für mich einzustehen, erst recht nicht im bett.
ich stelle meine bedürfnisse also zurück. denn auch ich kann gar nicht anders, habe das schon immer gemacht. weil frauen machen das einfach so.
und ich wünschte ich könnte raus aus meiner haut. würde meine bedürfnisse gerne äußern, laut. aber es fällt mir wirklich, wirklich schwer.
du ahnst ja gar nicht, wie sehr.
all das will ich dir sagen.
und du musst mich einfach mehr fragen.
ja, consent und so. aber auch „wie soll ich dich berühren? wo?“.
zeig mir, dass es dir wichtig ist, wie es mir geht. dass meine befriedigung nicht nur zufällig mal, ganz glücklicherweise mit deiner einhergeht. dass meine bedürfnisse den gleichen stellenwert wie die deinen haben.
ermutige mich, dir auch mal zu sagen, was ich will. es auszusprechen, laut und deutlich. denn diese stimme in mir, die sagt manchmal ganz heimlich, es ginge hier nicht um mich.
und doch, das tut es. es geht genauso um mich, wie um dich.
und das weiß ich. aber weil ich nun eben als frau sozialisiert bin, steckt es noch so tief in mir drin.
dir zu sagen, was ich will, das kostet wahnsinnig viel kraft. kraft, die ich nicht immer hab’ oder nicht haben müssen will. will nicht immer erst kämpfen, gegen all das, was schule, medien und pornos mich lehrten. lehrten mich, mich nicht zu beschweren und deine bedürfnisse zu priorisieren.
willst du mit mir gegen all das rebellieren? dann frag mich nach meinen bedürfnissen und lass mich immer wieder wissen, dass sie so wichtig sind wie die deinen.
ermutige mich, es zu wagen, dir all das zu sagen.
zeig mir, dass es dir wirklich wichtig ist, was mit mir und meinem orgasmus ist.
mach das immer und immer wieder, nur so brennen wir das patriarchat gemeinsam nieder.”

In der Wissenschaft beschreibt die sogenannte “Orgasmuslücke” das Phänomen, dass heterosexuelle, weiblich sozialisierte Menschen (65%) weniger oft zum Orgasmus kommen als ihr heterosexueller, cis-männlicher Sexpartner (95%). Beim Masturbieren unterscheidet sich dieser Anteil jedoch nicht abhängig vom Geschlecht, sodass die Wahrscheinlichkeit dabei zum Orgasmus zu kommen dementsprechend für weiblich sozialisierte Menschen deutlich höher liegt als beim penetrativen Sex/Circlusion1.
Diese Lücke geht auf das patriarchale System zurück in dem wir leben. Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass penetrativer Sex der sexuelle Akt an sich ist und sich Sex in erster Linie um die Befriedigung des Penisses dreht. Dabei wird Sex außerhalb der heterosexuellen Penetration oft als “schlechter” dargestellt und es fehlt an Repräsentation. Die Bedürfnisse von FLINTA* und die Rolle der Klitoris werden vernachlässigt und es werden Rechtfertigungen gesucht, um die Sexualität von Menschen ohne Penis als irgendwie anders oder komplizierter darzustellen, damit der Orgasmus von cis-Männern weiter die zentrale Bedeutung in unserem gesellschaftlichen Verständnis von Sex aufrecht erhält.

Lest hier mehr über die Orgasmuslücke:

❓Reflexionsfragen:

  • Wenn du als cis-Mann an Sex denkst, kommt in deinen Gedanken dann auch deine Partnerin und sein*ihr Orgasmus vor?
  • Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, wie wichtig ist es dir, dass deine Partnerin zum Orgasmus kommt beim Sex mit dir? Kommt es oft vor, dass du nachdem du zum Orgasmus gekommen bist, eigentlich keine Lust mehr hast weiterzumachen?
  • Wie oft redest du mit deiner Partnerin darüber, was guten Sex für euch beide ausmacht?
  • Hast du schonmal daran gedacht, einen Vibrator zur Stimulation der Klitoris einzusetzen?
  • Was verstehst du unter “Sex”? Übertrage deine Gedanken dazu auf Sex, der nicht heterosexuell ist oder in dem kein cis-Mann beteiligt ist. Würde dein Verständnis von Sex bedeuten, dass z.B. zwei Menschen mit Vulva gar keinen Sex haben können?

ℹ️ Begriffserklärungen:

  • (1) Circlusion, altmodisch auch Circumclusion. Circlusion ist der Gegenbegriff zu Penetration. Beide Worte bezeichnen etwa denselben materiellen Prozess. Aber aus entgegengesetzter Perspektive. Penetration bedeutet einführen oder reinstecken. Circlusion bedeutet umschließen oder überstülpen. (Quelle: https://missy-magazine.de/blog/2016/03/08/come-on/)

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